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VON MIKE DELBERG
Drei Tage nach dem 82. Jahrestag der Reichspogromnacht darf dieser traurige Meilenstein in der Gedenkpolitik unseres Landes noch nicht unter den Teppich gekehrt werden!
Sehr geehrter Oberbürgermeister der Stadt Dresden Herr Dirk Hilbert,
ich wende mich - als jüdischer Deutscher und Nachfahre von Überlebenden des Holocausts - mit Bestürzung, Wut und Unverständnis an Sie. Während Sie entschieden haben am 9. November, dem Gedenktag an die Reichspogromnacht von 1938, die öffentliche Gedenkveranstaltung Ihrer Stadt abzusagen und sie in die Unsichtbarkeit einer stillen Kranzniederlegung zu verlagern, marschierten die rechtsradikalen Anhänger der Pegida-Bewegung durch die Straßen Ihrer Stadt. Wie kein anderer Gedenktag erinnert uns die Reichspogromnacht daran, wozu es führen kann, wenn Nationalsozialisten walten gelassen werden, während sich die Anständigen in der Stille ihrer Anständigkeit verstecken.
An jenem Tag vor 82 Jahren brannten unsere Synagogen, lagen unsere jüdische Geschäfte in Trümmern, wurden jüdische Deutsche ermordet. Auch in Ihrer Stadt brannte die Synagoge am Hasenberg und „viele jüdische Geschäfte wurden gebrandschatzt und geplündert“. Das schreiben Sie selbst auf der offiziellen Webseite der Stadt Dresden. Wie kann es also sein, dass am Gedenktag an eben jene Nacht, in der die Rechtsradikalen der Vergangenheit mit der massenhaften Vernichtung des jüdischen Volkes begonnen haben, die Rechtsradikalen der Gegenwart ungestört inmitten Ihrer Stadt auflaufen und ihre menschenhassende Propaganda verbreiten können?
Der 9. November 1938 war eine Nacht von wichtiger Bedeutung für die Nazis. Denn sie war ein Test. Ein Test an die deutsche Bevölkerung, ob sie sich erheben würde, wenn jüdische Geschäfte zerstört und ihre jüdischen Mitbürger gepeinigt werden würden. Aus Sicht der Nationalsozialisten hat sie den Test leider bestanden.
Der Autor:
Mike Samuel Delberg ist 31 Jahre alt und gebürtiger Deutscher, Sohn von jüdischen Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion und Enkelsohn von Überlebenden der Shoa. Seit anderthalb Jahren trägt er ganz bewusst in der Öffentlichkeit die Kippa - immer und überall, als sichtbares Zeichen für ein lebendiges jüdisches Lebens in Deutschland inmitten aller Teile unserer Gesellschaft. Zwischen 2015-2020 war er der damals jüngste gewählte Repräsentant in der Geschichte der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. 2013 gründete er das Jüdische Studentenzentrum Berlin und 2016 war er Gründungsmitglied und daraufhin Vizepräsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD). Seit 2008 engagiert er sich ehrenamtlich in der jüdischen Jugendarbeit, im Kampf gegen Antisemitismus & Rassismus sowie im interreligiösen Dialog. Seit 2013 ist er Mitglied des Präsidiums des jüdischen Turn- und Sportverbands MAKKABI Deutschland.
Auch der 9. November 2020 war ein Test. Ein Test, ob man an einem Gedenktag an die Gräueltaten der Shoa eine rechtsradikale Demonstration veranstalten kann, ohne den dafür angemessenen vehementen Gegenwind von der Stadt zu erhalten. Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, auch Sie haben diesen Test leider bestanden. Ihre Argumentation zur im Grundgesetz und im sächsischen Versammlungsgesetz verankerten Versammlungsfreiheit ist mir bekannt. Auch habe ich mich mit der Ausführung befasst, dass die Versammlungsfreiheit in diesem Falle nicht einmal die Genehmigung durch die kommunale Behörde bedarf. Doch darum geht es mir nicht. Es geht mir darum, dass Sie mit ausreichend zeitlichem Vorlauf Kenntnis über die geplante rechtsradikale Pegida-Demonstration hatten und zugleich wussten, dass eine der bedeutsamsten Gedenkveranstaltungen zur Zerstörung jüdischen Lebens in Deutschland aufgrund von Corona in einem kleinen, unscheinbaren Rahmen stattfinden muss. Dennoch haben Sie sich nicht einmal die Mühe gegeben, diesen wichtigen Gedenktag mit mehr als nur einer Kranzniederlegung mit der Jüdischen Gemeinde und den üblichen Phrasen der Solidarität abzuspeisen.
„Nie wieder!“ „Niemals vergessen!“ - doch es ist wieder geschehen! Am 9. November 2020 in Dresden! Auf den Tag genau 82 Jahre nach der Reichspogromnacht durften sich die Nationalsozialisten unserer Zeit in Ihrer Stadt versammeln, während Sie Ihre Pflicht mit einer Kranzniederlegung aus Ihrer Sicht bereits erledigt hatten.
Ich möchte niemandem seinen Einsatz für das jüdische Leben und gegen den Antisemitismus absprechen. Ich bin mir sicher, dass Sie und auch zahlreiche engagierte Politiker*innen in Dresden bereits seit Jahren eine wichtige und ehrliche Arbeit dahingehend leisten. Aber ich möchte hiermit meine Enttäuschung und Wut - auch stellvertretend für viele andere Juden in Deutschland - über das zum Ausdruck bringen, was an diesem 9. November in Dresden geschah.
Man hätte bereits im Vorfeld der Demonstration mit Hilfe einer öffentlichen Stellungnahme klar Position gegen die Zusammenkunft der Pegida an diesem Tag beziehen und veröffentlichen können. Man hätte sich medienwirksam vor die Presse stellen können, um eine rechtsradikale Demonstration an einem Holocaust-Gedenktag wie diesem aufs Schärfste zu verurteilen und sich öffentlich davon zu distanzieren. Man hätte, wissend dass die Pegida-Demonstration am Altmarkt oder an einem der größeren Plätze Dresdens stattfinden würde, bereits vor Monaten eine Gedenkausstellung über die Reichspogromnacht entwerfen können, die man am 9. November um den Platz der Demonstration herum aufstellen hätte können. Man hätte jede Bushaltestelle und jede Litfaßsäule in Dresden an diesem Tag mit Botschaften der Erinnerung und des Widerstands gegen rechtes Gedankengut zupflastern können. Man hätte die Dresdner Bürger dazu auffordern können, verlegte Stolpersteine vor ihren Häusern zu säubern und all jenen zu gedenken, die vor noch nicht allzu langer Zeit in Dresdens Häusern wohnten, durch Dresdens Straßen gingen und diese Stadt als ihr zu Hause ansahen. Man hätte vieles machen können - als Aktion des Gedenkens an die Opfer der Shoa, als bewusste Gegenreaktion gegen den Pegida-Aufmarsch am Gedenktag der Reichspogromnacht und als Zeichen, dass die Dunkelheit der Gesinnung dieser Menschen mit dem Licht der Hoffnung auf eine bessere Gegenwart bekämpft wird. Statt still zu werden, wäre es an der Zeit gewesen, laut zu sein. Für die jüdischen Menschen in Dresden, für alle Juden in Deutschland und für all jene, die uns unterstützen. Und es gäbe so viele Corona-konforme Möglichkeiten dafür. Doch Sie wählten keine davon. Offenbar ist es leichter, einen Kranz niederzulegen als die Stimme zu erheben. Und im Stillen summt es irgendwo leise: „Nie wieder.“
Bitte verstehen Sie deshalb meine Frage danach, welche Lehren und Konsequenzen Sie aus diesem unsäglichen Ereignis ziehen werden. Wird es eine Antwort auf diesen Brief geben? Wird es mehr als einen verständnisvollen Erklärungsversuch gespickt mit den üblichen Phrasen darauf geben? Oder müssen wir uns wieder einmal mit schönen, aber leeren Sprüchen abspeisen lassen und darauf warten, dass sich die Geschichte wiederholt?
Ich hoffe sehr, in dieser Angelegenheit nicht ohne eine Antwort von Ihrer Seite zu bleiben.
Mit besorgten Grüßen, Mike Samuel Delberg.
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