Anzeige
Nicht alle Einzelheiten sind über die jüdische Jugendbewegung des späten 19. Jahrhunderts bis zur Gründung Israels bekannt. In verschiedenen, vor allem deutschen Universitäten, ist diese Thematik gegenwärtig Schwerpunkt mehrerer Diplom- und Doktorarbeiten sowie einiger Forschungsprojekte.
Umso begrüßenswerter war deshalb die Idee der Bildungsabteilung des Zentralrates der Juden in Deutschland darüber eine dreitägige Konferenz in Frankfurt am Main abzuhalten. Fast alle Referenten kamen aus dem universitären Bereich und berichteten über ihre Forschungsergebnisse. Nun sollte man eigentlich meinen, eine Konferenz mit anschließenden Workshops würde vor allem die jüdische Jugend interessieren. Dem war leider nicht so, weder Vertreter der ZJD, der Zionistischen Jugendunion Deutschlands, noch Mitglieder der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands saßen im Publikum, dessen Durchschnittsalter lag meist um die 60 Jahre.
Dennoch war diese Konferenz ein großartiger Erfolg. Denn hier wurden mehrere Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit vorgestellt, die sich alle mit der jüdischen Jugendbewegung befassen. Den Veranstaltern ging es um eine thematische Gesamteinordnung. Gelegentlich kamen auch Zeitzeugen ins Gespräch, dort wo das Exemplarische zur Methodik führte. Die Schriftstellerin Ulrike Kolb las aus einigen Briefen sowie ihren Interviewaufzeichnungen mit Gründern des Kibbuz Hazorea vor. Fast alle Mitglieder dieses 1936 im Norden Israels gegründeten Kibbuz kamen aus den „Werkleuten“, die sich 1932 von der jüdischen Wanderbewegung „Kameraden“, einer nichtzionistischen deutschbetonten Jugendbewegung, abgespaltet hatten. Die meisten Neuankömmlinge hatten keine Hachschara durchlaufen und mussten dann erst vor Ort ihre praktische Ausbildung nachholen. 1933 reiste die erste Gruppe der Werkleute nach Eretz Palästina ein. Frühzeitig hatten sie die Gefahr durchschaut, die vom verbrecherischen NS-Regime ausging. Rechtzeitig konnten sich die rund 1.200 Mitglieder der „Werkleute“ in Sicherheit bringen, während ältere Jugendliche sich in die Kibbuzim retteten, fuhren jüngere mittels der Kindertransporte nach Großbritannien und in weitere Länder.
„Wir versuchen, die Komplexität einer Epoche zu beschreiben“, führte der Wissenschaftliche Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrates, Prof. Dr. Doron Kiesel, in die Tagungsthematik der Konferenz ein, nachdem sie von Daniel Neumann, dem Vorsitzenden des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Hessen eröffnet worden war. Als erste Referentin sprach Historikerin Prof. Dr. Barbara Stambolis, die an der Universität Paderborn lehrt.Jüdische Jugendbewegungen, machte sie deutlich, sind „keineswegs auf Deutschland beschränkt“, sondern waren „vielmehr europäisch“. Bei dieser Tagung stand jedoch die deutsch-jüdische Jugendbewegung im Mittelpunkt. In Deutschland wie in ganz Europa gab es eine Aufbruchstimmung und Reformbewegung. Vor allem die Jugend wandte sich gegen die gesellschaftliche Bevormundung in der wilhelminischen Kaiserzeit. Dazu gehörte auch eine neue Körperkultur. Statt eingeschnürter Korsette schneiderte man neue Kleidung, in der sich jeder freier bewegen konnte. Vor allem die Jugend entdeckte die Schönheiten der freien Natur neu. Hier konnte man den strengen Regulierungen der Schule und der Gesellschaft entfliehen und eine eigene Lebensart entwickeln, mit Freikörperkultur, geselligem Beisammensein von Jungen und Mädchen und sportlicher Aktivität aus Freude heraus, ohne den Hintergrund einer militärischen Körperertüchtigung. Eine neue Erziehungs- und Pädagogikreform wurde in dieser Zeit entwickelt, die jedoch noch auf großen Widerstand des allgemein üblichen Kasernendrills in der Schule wie auch in der Gesellschaft stieß. Diese Epoche war auch der Beginn der „Wandervogel-Bewegung“. Anfangs noch voller verklärter Romantik, wurde sie schon bald von völkischen und nationalistischen Ansichten durchdrungen. Auf dem ersten großen „Freideutschen Jugendtag“ 1913 auf dem „Hohen Meissner“ für den der „Wandervogel“ den Boden bereitet hatte, kam es, so Prof. Dr. Stambolis „zu dezimiert antisemitischen verbalen Ausfällen“ und der österreichische „Wandervogel“ erklärte 1913, „dass wir weder Slawen, noch Welsche, noch Juden in unseren Reihen sehen wollen [...] weil wir unsere rassische Reinheit bewahren müssen.“
Die Ausgrenzungen führten schon Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts zu eigenen jüdischen Jugendverbänden, die zu Beginn noch sehr von der allgemeinen deutschen Jugendbewegung beeinflusst waren. Die politische Ausrichtung der jüdischen Bünde und Pfadfinder waren unterschiedlich. Anfangs noch vom assimilierten Judentum geprägt, wandte sich die Mehrzahl später den zionistischen und sozialistischen Ideen zu, die vor allem Jugendverbände der späten 20er und frühen 30er Jahre prägten. Curt Brody, schrieb 1929, dass junge Juden damals „allenfalls auf Zeit eine emotionale Heimat in der jüdischen Jugendbewegung in Deutschland finden konnten“. Hier ging es auch um die Entwicklung eines jüdischen Selbstbewusstseins, „Führung zur Selbstführung“, die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen sowie eine selbstbestimmte Lebensgestaltung. Vor allem in den Hachscharagütern waren diesen Schwerpunkte wichtige Vorbereitungen für die künftige Besiedlung Eretz Israels.
„Aus der Verfolgung in die Rettung“, lautete der Titel der Lesung von Dr. Urs Faes. Der Schweizer Schriftsteller, der aus Zürich nach Frankfurt kam, trug einige Passagen aus seinem Buch vor, das er über die Hachschara-Bewegung geschrieben hatte, in der junge Juden das nötige Rüstzeug für eine spätere Tätigkeit in der Landwirtschaft erlernten, während Knut Bergbauer von der TU Braunschweig die jüdischen Gruppierungen „Kameraden“ und „Schwarzer Haufen“ vorstellte. Der Kölner Journalist Hans Jakob Ginsburg referierte über die 1923 durch Ze‘ev Jabotinsky und Joseph Trumpeldor in Riga gegründete rechtszionistische Bewegung „Beitar“, in der sein Vater einst führendes Mitglied war. Kämpfer von Beitar waren u. a. am Aufstand im Warschauer Ghetto beteiligt. In Eretz Palästina verteidigten aus dieser Jugendbewegung kommende Mitglieder ab 1920 jüdische Siedlungen gegen arabische Angreifer. Menachem Begin, Jitzchak Schamir und Ehud Olmert waren Mitglieder von Beitar, ebenso der frühere Verteidigungsminister Mosche Arens. „Beitar“ gilt als Vorläufer der israelischen Parteien Cherut und Likut, spielt selbst aber heute keine bedeutende Rolle mehr, im Gegensatz zu dem Sportverband Beitar der 1924 gegründet wurde, von dem der Fußballverein „Beitar Jerusalem“ noch heute eine sportliche Größe ist.
Einen Übergang zur Gegenwart lieferte auch der Vortrag des israelischen Historikers Yaakov Snir, der über die in Österreich gegründete Hashomer Hatzair referierte, die 1931 regionale Schwerpunkte auch in Köln und Franken unterhielt. Ihr Ziel war die Alija und die Gründung von Kibbuzim. Die ersten Mitglieder erreichten bereits 1919 das britische Mandatsgebiet. Nach dem Zweiten Weltkrieg schlossen sich viele Mitglieder der Haganah und der Palmach an und engagierten sich für die manchmal auch illegale Einwanderung. Aus dieser Bewegung entstand 1948 die „Vereinigte Arbeiterpartei“. „Hashomer Hatzair lebt, und wie!“ betont Yaakov Snir und hob ihre Bedeutung für den Aufbau des jüdischen Staates hervor. Heute arbeitet die Bewegung auch eng mit den „Falken“ der SPD zusammen. Aktiv ist sie gegenwärtig in Österreich und vor allem in der Schweiz. 2012 wurde sie in Berlin ebenfalls neu gegründet.
In einer Podiumsdiskussion kamen dann auch Vertreter der jungen jüdischen Generation zu Wort, Mitarbeiter der ZWST, des Zentralrates und Vorstandsmitglieder der jüdischen Studentenunion diskutierten über aktuelle Themen und Perspektiven jüdischer Jugendarbeit heute. Es waren hochinteressante Tage, die einen Bogen von der Vergangenheit bis zur heutigen Jugendarbeit zogen. Die Thematik trägt noch viel Spannendes in sich.
Anzeige
Anzeige
Anzeige
Anzeige
Anzeige