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Wir haben wieder einen jüdischen Abgeordneten im Europaparlament. Aufgestellt von der Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ wurde Dr. Sergey Lagodinsky aus Berlin bei der letzten Europawahl für die kommenden fünf Jahre ins Europaparlament gewählt. Er ist der einzige jüdische Abgeordnete unter allen deutschen Europaparlamentariern.
Werden Sie neben den Prinzipien, für die Ihre Partei „Bündnis90/Die Grünen“ steht, sich auch für jüdische Belange einsetzen?
Politik ist immer ein Zusammenspiel zwischen Qualifikation, Funktion und Person. Ich bin von meinen Qualifikationen her Jurist und Außenpolitiker. Von meiner Funktion – deutscher und europäischer Mandatsträger. Allerdings geht meine eigene Identität weit darüber hinaus: Sie ist nicht nur deutsch, sondern natürlich auch jüdisch und – so ist nunmehr auch meine Lebensgeschichte – auch post-sowjetisch oder russischsprachig. Das bedingt auch meine Perspektiven – selbstverständlich gehört zu meinen Perspektiven in der politischen Arbeit auch die jüdische oder post-migrantische Perspektive. Ich stehe zu diesen Sichtweisen und freue mich auf deren Symbiose im politischen Alltag.
Sie schauen auf eine lange politische Erfahrungen zurück. Als Kind wuchsen Sie in der Sowjetunion auf, kamen dann als Kontingentflüchtling nach Deutschland, wo Sie zuerst an der Göttinger Universität Jura studierten, später dann in Harvard Ihren Master in Public Administration machten. Anschließend promovierten Sie an der Berliner Humboldt-Universität. Sie haben für mehrere Zeitungen gearbeitet, waren Programmdirektor und später Berater des American Jewish Committees und arbeiteten zuletzt im Referat EU/Nordamerika der Heinrich-Böll-Stiftung. Haben Ihre beruflichen Tätigkeiten eine Auswirkung auf ihr politisches Engagement?
Selbstverständlich! Das Wichtigste was ich daraus mitnehme, ist die Überzeugung, dass wir eine persönliche Entfaltung eines jeden Bürgers am besten garantieren können, wenn wir den verfassungsdemokratischen Rahmen unserer Gesellschaft stärken und Gleichberechtigung für jeden erreichen. Meine bisherigen Erfahrungen zeigen, dass eine Gesellschaft nur so stark ist, wie die Chancen, die sie Menschen bietet, egal woher sie kommen. Ich habe es trotz aller Schwierigkeiten in meinem Falle persönlich erlebt. Das müssen wir allen ermöglichen.
Zwölf Jahre engagierten Sie sich nebenberuflich in der Repräsentantenversammlung der Berliner Jüdischen Gemeinde, obwohl Sie mehrfach betont haben, nicht gläubig zu sein und selten eine Synagoge besuchen. Ist es möglich, jüdisch zu sein, ohne Judentum aktiv zu praktizieren? Wie würden Sie Ihre jüdische Identität beschreiben?
Ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen, wo beides möglich und unvermeidbar war: Wir waren Jüdinnen und Juden, weil dies nicht nur im Pass stand, sondern auch unseren Alltag, aber auch unsere Familiengeschichten prägte. Zugleich waren die meisten von uns säkular, weil die sowjetische Gesellschaft insgesamt eine atheistische Gesellschaft war. Ich glaube nicht, dass das sowjetische Model des Judentums einen Vorbildcharakter haben soll. Auf keinen Fall! Denn der dortige Dualismus zwischen Judentum und Atheismus auch ein Ergebnis des staatlichen Antisemitismus war. Aber diese Erfahrungen prägen nunmal die Identität zahlreicher Menschen, die aus der Sowjetunion gekommen sind, auch meine eigene. Zugleich ist das Model „säkulares Judentum“ auch in Demokratien weit verbreitet. Im Grunde genommen sind große Teile der jüdischen Kultur in den USA, aber auch in Israel säkular. Das ist kein Manko, sondern ein Reichtum, was als Teil der jüdischen Vielfalt zu akzeptieren gilt. Ich bin zugleich der starken Überzeugung, dass wir in demokratischen Staaten die säkularen jüdischen Identitäten nur dann produktiv nutzen können, wenn wir eine jüdische Bildung für Kinder und Jugendliche stärken. Eine Verbindung mit der Gemeinschaft funktioniert in einer Demokratie eben nicht über die Ausgrenzung, sondern über die Bildung der Jugendlichen. Welchen Modus der Auseinandersetzung mit ihrer Religion sie später wählen, ist deren freier Wahl überlassen.
Als Sie noch Mitglied der SPD waren, gehörten Sie zu den Gründungsmitgliedern des „Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten“. Weshalb gibt es keinen ähnlichen Arbeitskreis in der Partei „Bündnis90/Die Grünen“? Spielt die Sympathie einiger Mitglieder für palästinensische Akteure und Israelkritik dabei eine Rolle?
Als ich nach dem Causa Thilo Sarrazin die SPD verließ und mich später nach reiflicher Überlegung den Grünen anschloss, hat es ähnliche Erwartungen gegeben. Allerdings betrachtete ich mich damals nicht als mobiler Inkubator jüdischer Arbeitskreise. Nach der Gründung der „Juden in der AfD“ spiele ich allerdings auch mit dem Gedanken und habe schon mit einigen darüber gesprochen, denn es wäre meines Erachtens wichtig, hier eine starke progressive Alternative zu dieser „Alternative“ zu haben. Im Übrigen bin ich nicht der Meinung, dass es gerecht ist, sich ständig an angeblicher anti-Israel-Haltung meiner Partei abzuarbeiten. Ich bin immer noch beeindruckt wie viele Israel-freundliche Haltungen es in der Partei gibt. Das sieht man an zahlreichen anti-BDS-Resolutionen der Länderverbände, aber auch an einer klaren Haltung der Jugendorganisation Grüne Jugend.
Werden Sie gegen Israelkritik und Antisemitismus auftreten? Und arbeiten Sie auf diesem Gebiet auch mit anderen zusammen, wie zum Beispiel mit der Antisemitismusbeauftragten Katharina von Schnurbein und anderen. Wie sieht diese Zusammenarbeit aus? Gibt es konkrete Pläne für eine verbesserte Bildung vor allem für Lehrer und andere Bildungsbeauftragte, sowie für Juristen und Angestellte des Polizeiapparates der EU-Mitgliedsländer über den Holocaust und seine Auswirkungen in den heutigen Köpfen mancher heutiger rechter Gesinnungstäter. Was halten Sie von der Einbeziehung jüdischer Kultur als Teil des kulturellen Erbes Europas?
Ich halte die Bekämpfung von Antisemitismus für eine wichtige Aufgabe Europaweit. Die Art und Weise der parlamentarischen Zusammenarbeit mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur/innen wird sich für diese Wahlperiode noch herausbilden müssen. Dabei werden wir an die Vorarbeit einer überfraktionellen Gruppe gegen Antisemitismus anknüpfen, an denen auch die Grünen mit Helga Trüpel hervorragend vertreten waren. Ich halte wenig davon, wenn diese Aufgaben primär jüdischen Akteur/innen überlassen werden. Ich bin kein Alibi-Jude der Fraktion und wurde weder mit Unterstützung der jüdischen Institutionen oder Gemeinden noch als deren verlängerter Arm gewählt. Aber ich werde die Entwicklungen in diesem Bereich selbstverständlich aufmerksam begleiten und unterstützen. Das Thema ist meine persönliche Herzensangelegenheit.
Daniel Cohn-Bendit plädiert für ein gemeinsames Auftreten der Deutschen Grünen und der liberalen Partei Emmanuel Macrons „La République en Marche“. Wird es im Europaparlament eine Fraktion der Mitte geben, der sich auch Ihre Partei als Bollwerk gegen Rechts anschließt?
Die Fraktion „Renew Europe“ ist die drittgrößte Fraktion des Parlaments, die Fraktion „Grüne/EFA“ ist die viertgrößte. Ein Zusammenschluss hier ist schon rein rechnerisch nicht produktiv. Es geht vielmehr seit Monaten um Bemühungen, dass alle vier demokratischen und pro-europäischen Fraktionen sich zum Wohle der europäischen Zukunft auf eine gemeinsame Agenda einigen. Für die Grünen ist es nur möglich, wenn hier klimapolitische und demokratiepolitische Schwerpunkte ihren Niederschlag finden.
Überall in Europa fürchten sich jüdische Menschen vor einem Anstieg des Populismus und islamistischen Terrors. Was halten Sie von den Flüchtlingsströmen aus dem Nahen Osten. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten populistischer Parteien, die zum Beispiel in Flandern und Wallonien ein Schächtverbot durchsetzen konnten oder wie in Island und anderen Ländern die Brit Mila illegalisieren wollen und nationalistischem Gebaren, das Juden und Muslime gleichermaßen betrifft. Setzen Sie sich im Europaparlament für Religionsfreiheit als Ausdruck eines freiheitlichen, demokratischen Europas auch als Stimme Ihrer Partei ein?
Wir müssen eine gesunde Balance zwischen Religion und Zusammenhalt finden. Allerdings müssen wir bei diesen Fragen wie bei vielen anderen auch eines im Blick behalten: Nicht alle solche Fragen werden in Brüssel entschieden. Wichtig ist für jede einzige Gesellschaft in jedem Land eine freiheitlich-demokratische Abwägung zwischen verschiedenen Rechtsgütern zu finden. Das gilt insbesondere für die Frage der Religion in öffentlichen Räumen, wo etwa Frankreich mit seinem Laizismus einen anderen Weg einschlägt als Deutschland oder Polen. Allerdings dürfen wir diese Frage des öffentlichen Zusammenlebens nicht mit den Freiräumen für die persönliche Ausübung der Religion verwechseln: Einschränkung der religiösen Bräuche, die für die jeweilige Religion anerkannterweise konstitutiv sind, sind für eine demokratische und plurale Gesellschaft nicht hinnehmbar. Hier sind wir aber, wie gesagt, erst ein Mal auf der Ebene der nationalen Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit. In entsprechende Diskussionen in Deutschland um die Frage der Beschneidung habe ich mich aktiv im Sinne der jüdischen, aber auch der muslimischen Perspektiven eingebracht.
Wie treten Sie als Abgeordneter Diskriminierung und Hassverbrechen entgegen? Engagieren Sie sich gegen Menschenrechtsverletzungen und Armut in den Mitgliedsländern und darüber hinaus in der Welt?
Ihre Partei ist für ihren Einsatz für den Klimaschutz und die Forderung nach der Ausweitung verschiedener Bürgerrechte in unserem Zeitalter der Digitalisierung bekannt. Planen Sie sich auch auf diesem Gebiet im Europaparlament einzusetzen?
Einer meiner Schwerpunkte ist die Frage der Ausgestaltung der Bürgerrechte, aber auch des Zivil- und Strafrechts in Zeiten der Digitalisierung. Für mich ist wichtig, dass wir unsere rechtlichen Konzepte ganz neu denken und nicht versuchen, die bisherigen analogen Konzepte auf die neue digitale Wirklichkeit mit Biegen und Brechen anzuwenden. Diesem Thema werde ich mich in zwei meiner Ausschüsse (Innen- und Rechtsausschuss) verstärkt widmen.
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