Zum ersten Mal fand die jährliche Tagung der „World Federation of Jewish
Child Survivors of the Holocaust and Descendants“ in Berlin statt. Mehr als 300 Teilnehmer kamen mit ihren Kindern und Enkelkindern in die deutsche Hauptstadt.
„Oh mein G'tt, oh mein G'tt!“ Emotionsgeladen springt Susan Marx vom Essenstisch auf. „Du wärst mein Bruder geworden“, ruft sie Dr. Kurt Grünberg zu. Auch ihre Mutter Hanna hat feuchte Augen. Grünbergs Vater war ihre große Liebe. Nach dem Krieg hat sie viele Jahre nach ihrem Verlobten gesucht. Vergeblich, die Nationalsozialisten hatten das Liebespaar endgültig getrennt. Jetzt, 66 Jahre nach der Zerschlagung des NS-Regimes, sitzt sie seinem Sohn gegenüber.
Hanna Marx lebt heute in den USA, in San Diego. Psychotherapeut und Psychoanalytiker Dr. Grünberg hat seine Praxis in Frankfurt. Beide trafen sich in Berlin anlässlich eines Kongresses der „World Federation of Jewish Child Survivors of the Holocaust and Descendants“, wo auch Dr. Grünberg einen Vortrag hielt.
Zum ersten Mal hielt der Weltverband der Child Survivors seine jährliche Tagung in Deutschland ab. 1985 wurde er als Zusammenschluss von Juden gegründet, die in der NS-Zeit noch Kinder waren und den Schrecken der Shoa in Kellern und Verstecken überlebten – bei Partisanen, in Klöstern oder auch in andere Länder gebracht wurden, wo sie ohne ihre Eltern und Verwandten aufwuchsen, von denen viele von den Nationalsozialisten ermorden worden waren. Aufgegliedert ist der Weltverband nach Ländergruppen. Der deutsche Zweig wurde am 13. April 2001 gegründet, genau nach dem Vorbild des Weltverbandes, als ein Verein von „Betroffenen für Betroffene“. Heute sind die meisten der etwa 25.000 Mitglieder des Weltverbandes zwischen 68 und 86 Jahre alt. Lange Zeit standen sie in der öffentlichen Wahrnehmung im Schatten ihrer verfolgten und ermordeten Eltern. Von ihrem Trauma wurde wenig gesprochen. Und so stand die diesjährige Tagung auch unter dem Motto „Lost Childhood – Jewish Child Survivors“.
Kinder, deren ganze Kraft aufs Überleben ausgerichtet ist, die sich verstecken müssen, die ständig auf der Hut und auf der Flucht sind, können kaum zur Schule gehen oder mit anderen Kindern in der Freizeit lustig herum tollen. Solche kleinen Jungen und Mädchen haben keine Kindheit. Wenn Ghettoerlebnisse die Kindheit prägten, das Leben in der Illegalität oder bei fremden Menschen, dann bringen diese Erfahrungen auch eine Folge traumatischer Erlebnisse mit sich. Diese brechen vor allem im fortgeschrittenen Alter deutlicher hervor, als Krankheiten der Seele und auch körperlich. „Wir haben gelernt, uns unsichtbar zu machen“, sagt die 1935 in Warschau geborene Yoella Har-Shefi, die in einem katholischen Waisenhaus versteckt wurde und der es gelang 1946 als 11-Jährige nach Eretz Israel zu fliehen, während ihre Eltern in Treblinka ermordet wurden. „Konnten wir einfach unsere Kindheit fortsetzen?“, fragt sie und antwortet für alle mit einem „Nein!“ Einen lauten Schrei stößt Stefanie Seltzer, die Präsidentin des Weltverbandes aus. „Wir konnten nie unsere persönliche Hoffnungen verwirklichen“, erklärte sie in ihrer Rede, „einen großen Teil unserer Talente, unserer Kräfte, unserer Fähigkeiten mussten wir darauf aufwenden, diesen Schrei zu unterdrücken, all das Grauen zu unterdrücken, die Erinnerungen, die Todesängste, die uns nachts plagen.“
Das Leben nach 1945 war nicht einfach, „mit all den Narben, mit all den versäumten Ausbildungen und dem geringen Verständnis ringsum“, sagt der stellvertretende Vorsitzende von Jewish Child Survivors Deutschland, Dr. Philipp Sonntag, der in einer evangelischen Pflegefamilie aufwuchs. Sein Cousin Thomas, der in London lebt, hatte viele Jahre nach ihm gesucht. Als sie sich fanden, war Dr. Philipp Sonntag bereits 50 Jahre alt. Erst da erfuhr er, dass er Jude ist. Seitdem beschäftigt sich Sonntag mit dem Judentum und seiner eigentlichen Identität. „Das Schicksal hat so verschiedene, individuelle Formen“, staunt der Wissenschaftler, der auch Bücher über unsere Informationsgesellschaft und Schlüsseltechnologie schreibt und zum Beispiel vor den Folgen eines Atomkrieges warnt. Heute engagiert er sich auch in der Berliner Seniorengruppe der Child Survivors, die sich einmal im Monat in der Fasanenstraße trifft. „Alle sind willkommen“ sagt er und arbeitet auch eng mit der postsowjetischen Child Survivors „Phönix Gruppe“ zusammen, die ebenfalls zur Konferenz eingeladen wurde. Dr. Sonntag hatte gemeinsam mit dem Europapräsidenten von Jewish Child Survivors, Max Aprels Lezer aus Amsterdam, den Kongress organisiert.
Würdevoll war der Beginn. Neben dem Rednerpult waren sieben Kerzen aufgestellt. „Sechs Kerzen für sechs
Millionen ermordete Juden und eine Kerze für eineinhalb Millionen Kinder, die nicht mehr unter uns sind“, erklärt Max Arpels Lezer. Die erste Kerze zündete Melita Strac aus Zagreb an. Gemeinsam
kam sie mit ihrer Großmutter Dubravka Svob Strac und ihrer Mutter Elena Strac auf die Bühne. Auch die weiteren Kerzen zündeten Child Survivors aus den USA, der Ukraine, Deutschland und den
Niederlanden an, die mit ihren Kindern nach Berlin gekommen waren. Bisher wurden jene Holocaustüberlebende, die in der NS-Zeit noch Kinder waren, von der deutschen Politik weitgehend
stiefmütterlich behandelt. In Berlin jedoch waren am Eröffnungsabend auch mehrere Repräsentanten von Parteien, der Regierung und dem Senat anwesend, neben dem amerikanischen und israelischen
Botschafter, Dr. Josef Schuster, dem Vizepräsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland und Vertretern der Jewish Claims Conference. Endlich wird von offizieller deutscher Seite anerkannt,
dass auch diejenigen, die als Kinder den Holocaust überlebten, durch die Schuld der deutschen Nationalsozialisten unendlich gelitten haben. Nach zähen Verhandlungen der Claims Conference mit der
deutschen Regierung hat die Bundesregierung nun zugegeben, dass der Verlust der Kindheit und die daraus resultierenden Traumatisierungen ein Ergebnis der nationalsozialistischen Verbrechen ist.
Jetzt wird in Deutschland ein Fonds für alle nach dem 1. Januar 1928 geborenen Überlebenden gebildet, die als Kinder in die Fänge des NS-Regimes gerieten. Ab dem 1. Januar 2015 soll jeder der
Berechtigten einmalig für medizinisch-psychotherapeutische Hilfe 2.500 Euro erhalten..
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