Teschuwa, Rückkehr zum Ursprung

Die Mikwe als Teil des Gemeindelebens

Rabbiner Julian-Chaim Soussan stammt aus einer marokkanisch-sephardischen Rabbinerdynastie. Geboren wurde er in Freiburg, wo er auch sein Abitur machte, danach studierte er in Heidelberg Volkswirtschaft und Judaistik an der Hochschule für Jüdische Studien. In Jerusalem absolvierte er an einer Jeshiwa seine Rabbinerausbildung und erhielt 2003 dort seine Ordination. Seit 2012 ist Soussan Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Mainz und gleichzeitig Mitglied des Vorstandsbeirats der orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschlands.

  • Rabbiner Julian-Chaim Soussan vor der Bima der Synagoge von Mainz.

Herr Rabbiner Soussan, was ist wichtiger, eine Synagoge oder eine Mikwe? Bei unserer Umfrage betonten vor allem orthodoxe Juden, dass die Mikwe am Wichtigsten ist. Doch werden gegenwärtig vor allem G‘tteshäuser gebaut und viel weniger Mikwaot. Selbst in Mainz, wo Sie amtieren, entstand zuerst die Synagoge.

 

Die Prioritätenfrage hängt mit der Situation zusammen. Es ist nachvollziehbar, wenn zuerst eine Synagoge gebaut wird, deren Schönheit und Attraktivität die Menschen zum G‘ttesdienst hereinholt. In Mainz wird demnächst auch eine Mikwe gebaut. 

 

Die von Anfang an mit eingeplant war.

 

Es ist nur eine zeitliche Verschiebung. Juden sollten nicht in einer Stadt leben, in der es keine Mikwe gibt. Wobei Entfernungen bis zu einer halben Stunde Autofahrt durchaus in Kauf genommen werden können.

 

Im etwa 40 Kilometer entfernten Frankfurt besteht die Möglichkeit ins Tauchbad zu gehen.

 

In Mainz dann auch. Die Mikwe ist ebenso wie der Friedhof eine unbedingte Voraussetzung für die Existenz einer jüdischen Gemeinde an diesem Ort.

 

Es ist die gesamte Breite jüdischen Lebens, vom Leben bis zum Tod. Weshalb eigentlich ist es so wichtig, in Wasser unterzutauchen?

 

Noch vor der Erschaffung der Erde und des Menschen heißt es in der Tora, „schwebte“ G‘ttes Geist über dem Wasser. Es ist das erste Mal, dass ein physisches Element in direktem Kontakt mit dem Spirituellen trat. Darum geht es im Tauchbad, nicht um stoffliche Sauberkeit und Hygiene, sondern um spirituelle Reinheit. Ich als Mensch, muss bei jedem Kontakt mit dem Tod in all seinen Erscheinungsformen selber aktiv werden, um das Potential des Lebens neu zu entdecken, um zum Ursprung zurück zu finden.

 

Der Tod betrifft nicht nur die Berührung mit bereits gestorbenen Menschen. 

 

Es gibt viele Abstufungen beim jüdischen Konzept des Todes. Nach, pardon, jedem Toilettengang muss man sich die Hände waschen.

 

Die menschlichen Ausscheidungen sind, ebenso wie auch Haare und Bart, Teile die zuvor zu unserem lebenden Körper gehörten und nun von diesem Leben getrennt werden.

 

Oder die monatliche Blutung der Frau, die Zellen abstößt, die ursprünglich dafür vorgesehen waren, neues Leben zu schaffen.

 

Das betrifft aber auch Männer mit ihrem Ejakulat, das kein Leben erzeugt.

 

Nicht nur die Frauen, auch Männer können rituell unrein, Tameh, werden. Mit dem Untertauchen in lebendiges Wasser, durch das wir den Geist G‘ttes spüren, wird der Todeshauch von uns genommen und die spirituelle Reinheit wieder hergestellt.

 

Das ist weit mehr, als reine körperliche Sauberkeit. 

 

Wasser hat auch eine spirituelle Geschichte. Als die Menschheit sich komplett von G‘tt abgewandt hatte und tief in Materialismus und Sünde versunken war, flutete G‘tt die Erde. Niemand, außer dem g‘ttesfürchtigen Noah und seiner Familie überlebte die Sintflut. Es kam zum Nullpunkt und G‘tt schuf mit dem Wasser eine neue Welt. 

 

Wasser spielt für das Judentum eine bedeutende Rolle.

 

Es muss „lebendiges“ Wasser sein. In der Mikwe muss es sich stets von selber reinigen und erneuern können. Es kann also Quell-, Regen- oder auch Grundwasser, sowie Fluss- und Seewasser sein. Nicht erlaubt für die Mikwe sind stehende Gewässer.

 

...wie es zum Beispiel in Schwimmbädern enthalten ist, in einer Badewanne oder in einem See, der keinen ständigen Abfluss hat. Wie oft sollte man die Mikwe aufsuchen? Abgesehen von besonderen Anlässen wie zum Beispiel vor einer Hochzeit oder dem Gang der Frauen nach ihrer monatlichen Menstruation? 

 

Manche gläubigen Juden gehen jeden Freitag in die Mikwe, um sich neu zu strukturieren, Frauen wie Männer. Doch einmal im Jahr, vor Jom Kippur, ist ein Gang in die Mikwe besonders wichtig. Das ganze Jahr über begegnen wir Dingen, die uns von unserer Spiritualität abbrachten. Während der Hohen Feiertage bemühen wir uns, zum Idealzustand zurück zu kehren und G‘tt wieder näher zu kommen. Besonders beim Untertauchen, wenn wir zu lange unter Wasser bleiben, erleben wir unsere Körperlichkeit hautnah und werden uns wieder bewusst, dass wir sterblich sind. In der Synagoge bitten wir G‘tt dann, uns unsere Sünden zu vergeben und unser Leben zu verlängern.

 

Regelmäßig besucht wird die Mikwe vor allem von Frauen, die allein, manchmal aber auch gemeinsam hingehen.

 

Es ist schön, wenn die Frauen sich gegenseitig unterstützen. Sie haben die religiöse Pflicht, die Mikwe aufzusuchen. Im Gegensatz zu den Männern, für die dieses Gebot nicht gilt. Deshalb gibt es die Balanit, die bei den Frauen darauf achtet, dass alles halachisch richtig durchgeführt wird. Bei den Männern gibt es dieses Amt nicht.

 

Geschirr wird ebenfalls gekaschert.

 

Auch hierfür darf man nur natürliches, lebendiges Wasser benutzen. Man kann es auch im Fluss machen, zum Beispiel in den Rheinauen.

 

Aber das ist doch nicht sehr sauber?

 

Es geht um die Tahara. Natürlich sollte es hinterher noch mal abgewaschen oder in den Geschirrspülautomaten gestellt werden. Wirklich wichtig ist die rituelle Reinheit. Wenn eine Frau darauf achtet, ist anzunehmen, dass sie auch die Speisegebote ernst nimmt und den g‘ttlichen Segen so in ihr Haus holt. 

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