OLEG JURJEW

EIN RUSSISCH-DEUTSCHER POET UND SCHRIFTSTELLER

 

EINST WAR OLEG JURJEW EIN DICHTER DES UNTERGRUNDS. IN DER SOWJETUNION WURDEN SEINE GEDICHTE, ESSAYS UND THEATERSTÜCKE OFT ILLEGAL VERVIELFÄLTIGT – MIT DER SCHREIBMASCHINE UND DURCHSCHLÄGEN AUF KOHLEPAPIER. AUCH IN DER INOFFIZIELLEN JIDDISCHEN ZEITSCHRIFT WURDEN GEDICHTE VON IHM ABGEDRUCKT UND SEINE FRÜHE PROSA ALS FORTSETZUNGSROMANE VERBREITET. ALS DANN DIE PERESTROIKA KAM, WAR ER BEREITS IN DER LITERATURSZENE IN ST. PETERSBURG, MOSKAU UND ODESSA EIN BEKANNTER POET.

 

Fast alle seine Arbeiten haben einen Bezug zum Judentum, zur russischen Kultur und Geschichte, sind Abrechnungen mit dem untergegangenen Sowjetregime oder kritische Auseinandersetzungen mit den Anfangsjahren der neuen Zeit.

1990 kam er zu einer Lesereise nach Berlin. Ein Jahr später übersiedelte er dann mit seiner Frau, der Lyrikerin, Publizistin und Übersetzerin Olga Martynova und seinem Sohn Daniel von St. Petersburg nach Frankfurt. Abwarten, wie sich die Lage in Russland weiter entwickelt, wollten sie. Geblieben sind sie mittlerweile zwanzig Jahre und haben sich hier ein neues Leben aufgebaut. Oleg Jurjew versteht sich inzwischen als ein „russisch-deutscher Schriftsteller.“

Der Kontakt zu den Freunden, viele von ihnen auch ehemalige Dissidenten und in der Literaturszene heimisch, konnte er mittels Internet und Telefon aufrecht halten. „Von ihnen lebt fast keiner mehr in Russ-land“, erzählt er mit Wehmut, dennoch sieht er sich als Schriftsteller der russischen Gegenwartsliteratur zugehörig. Er reist zu Tagungen und Lesungen nach Moskau und St. Petersburg, nimmt an Wettbewerben teil und sieht sich als Teil des modernen Poesie- und Literaturbetriebes. Andererseits fühlt er sich in Frankfurt wohl und lebt, wie so viele andere auch, in zwei Heimaten. „Das Leben in einer anderen Kultur inmitten eines anderen Volkes ist günstig, um zu verstehen, dass es keine eindeutige Wahrheit über die Dinge des Lebens gibt“, meint Oleg Jurjew, „man ist in einer einzigartigen Situation und kann alles vielseitiger betrachten“.

Geboren wurde Oleg Jurjew am 28. Juli 1959 als Sohn einer jüdischen Dozentin für englische Literatur und eines Violinisten und Konservatoriumslehrers. Mit dem Schreiben hatte er angefangen, als er an der Leningrader Hochschule für Volkswirtschaft und Finanzen in der Fachrichtung Wirtschaftsmathemathik und Systemtheorie zu studieren begann, was er machte, um dem Dienst in der Roten Armee nicht antreten zu müssen. Sein Wunsch, in der Sowjetunion Literatur studieren zu können, erfüllte sich nicht. Als Jude hatte er wenig Chancen, einen Studienplatz in den geisteswissenschaftlichen Fächern zu bekommen. So bildete er sich autodidaktisch weiter – und hatte Glück. „1986 gab man Dina Schwarz, der Mutter von Jelena und legendären Dramaturgin des Towstonogow-Theaters zwei meiner Theaterstücke. Ich machte mir keine Hoffnungen, die Stücke – mit jüdischem Stoff und absolut „nicht realistisch“, hatten unter den sowjetischen Zensurbeschränkungen keine Chance“, erinnert sich Jurjew an seine Anfänge. Dina Schwarz machte ihre Tochter Jelena Schwarz, die eine Dichterin des Untergrunds war, auf den jungen Mann aufmerksam. Jelenas Werke gab es fast ausschließlich als gebundene Typoskripte, Lesungen ihrer Prosa und Lyrik waren halblegal, „in den Räumen des „Club 81“, einer Vereinigung, die unter der Ägide des KGB für inoffizielle Autoren Leningrads gegründet worden war“, beschreibt Jurjew diese Zeit. Die Frauen halfen ihm finanziell über die Runden zu kommen, obwohl er kein Mitglied im offiziellen staatlichen Schriftstellerverband war und deshalb keine Genehmigung für eine Tätigkeit als freier Literat erhielt. Oleg Jurjew wurde offiziell als „Privatsekretär“ angestellt, inoffiziell verdiente er seinen Lebensunterhalt bereits mit seiner schriftstellerischen Arbeit. Kurz vor der Wende wurde er dann doch offiziell als Literat zugelassen. 1988 gewann er mit seinem Stück „Komische Geschichten für Schattentheater“ sogar den Wettbewerb des russischen Theaterverbandes. Erste Bühnen inszenierten weitere Theaterstücke. 1989 wurde ein Lyrikband von ihm gedruckt, 1990 zwei Theaterstücke unter dem Titel „Zwei kurze Stücke“.

Als er nach Deutschland kam, war er Insidern schon als russischer Dissidentenpoet und Dramatiker bekannt. So hatte er schon früh Erfolg. Auf den Berliner Festspielen wurde ein Theaterstück von ihm aufgeführt, auch im Hans-Otto-Theater Potsdam und im „Theater am Zoo“ in Frankfurt am Main. Verschiedene deutsche Verlage, vor allem der Suhrkamp-Verlag veröffentlichten seine Romane.

Sieben Bücher hat er inzwischen geschrieben, die immer auch einen Bezug zu Russland haben und viele Erinnerungen beinhalten, so auch in den „Leningrader Geschichten“, in „Die Halbinsel Judatin“ oder in seinem letzten Werk „Die russische Fracht“. 1996 entstand „Der Frankfurter Stier“, zu dem ihn Grabmale auf dem Jüdischen Friedhof und eine Begebenheit aus der alten Chronik anregten. Dieser Prosaband wurde zuerst in Russisch veröffentlicht, aber noch im gleichen Jahr auch ins Deutsche übersetzt und herausgegeben. „Man schreibt nie anders als in seiner Muttersprache“, meint der Schriftsteller, ein Grundsatz, den er auch bei seinem letzten Band nicht brach.

JURJEW WIRD MIT „HILDE DOMIN PREIS“ GEEHRT

Der diesjährige „Hilde Domin Preis im Exil“ geht an Oleg Jurjew. Seine in Deutschland entstandenen Werke, so die Begründung der Jury, zeichnen sich „durch ein hohes poetisches Potenzial aus“. Auch „bewahrt er Aspekte jüdischer Identität, indem er sie durch Sprache neu erschafft.“
Am 26. Oktober wird Jurjew den mit 15.000 Euro dotierten Preis entgegen nehmen, anlässlich des 80. Geburtstages von Hilde Domin, der von der Stadt Heidelberg ins Leben gerufen wurde. Alle 3 Jahre wird er an Autoren vergeben, die im Exil oder als Nachfahren von Exilanten in Deutschland leben und hier ihre Werke publizieren.

Oleg Jurjew ist ein facettenreicher Autor. Seine Romane sind mit ideenreichen, schillernden Anspielungen an die Literatur gespickt – mal ironisch, mal ernsthaft, mal lustig, meist sind sie jedoch skuril geschrieben. In der „Russischen Fracht“ transportiert ein Schiff heimlich Leichen nach Deutschland um sie dort zu beerdigen, denn in Deutschland sterben keine Menschen mehr. Wissenschaftler haben ein Elixier des ewigen Lebens entdeckt, was man jedoch geheim halten wollte. Jetzt benötigt man russische Leichen...

Assoziationen zu Gogols „Toten Seelen“ sind erkennbar, aber auch Anspielungen auf die totale Anarchie in den ersten Jahren des neuen Russlands, in denen politische Morde tagtäglich passierten. Noch mit den Toten, die man nach Deutschland verschifft, machen im Roman Oligarchen Geschäfte.

Ein junger Abenteurer flieht noch im letzten Moment auf ein Schiff das „Atenov“ heißt. Liest man jedoch den Namen von rechts nach links, wie es im Hebräischen üblich ist, ist es eine Anspielung auf „Vineta“, jenem östlichen Atlantis, von dem der Dichter erzählt, ein jüdischer Gesandter des Kalifen al Hakam aus Cordoba habe zum ersten Mal darüber berichtet. Unwillkürlich denkt man dabei an Harun al Raschid, der einen jüdischen Diplomaten an den Hof Karls des Großen nach Aachen schickte, aber auch an die prachtvolle jüdische Kultur in Spanien unter maurischer Herrschaft. Assoziationen zu Weltereignissen und zur russischen wie internationalen Kultur gibt es massenhaft. Bulgakow und John Milton, Puschkin, Valentin Katajew, Iwan Bunin, Vladimir Nabokov mögen Pate gestanden haben bei diesem brillant geschriebenen Sprachspielereien, voll gepackt mit enzyklopädischem Wissen. Zum Beispiel, wenn der Vater Bologneser Hündchen als Zwergschafe deklariert, um sie am Zoll vorbei ins Ausland zu schmuggeln. Viele Anspielungen auf das alltägliche Leben in der Sowjetunion enthält der Roman, auf Bauernschläue von Menschen, die sich durchs Leben mogeln und ihre alten Gewohnheiten ins westliche Ausland mitnehmen wollen, wo jedoch ganz andere Gesetze herrschen. So entstehen groteske Situationen, die Jurjew in seinem Roman mit verarbeitet.

„Die russische Fracht“ ist nicht einfach zu lesen. Man sollte sich Zeit nehmen, vielleicht mit einem Nachschlagewerk in der Hand oder einem ständigen Blick in das allumfassende Wissen des Google-Programms. Dass er im Herbst dieses Jahres erneut einen Preis erhält ist verständlich. Wurden seine Werke doch in viele Sprachen übersetzt und wird er doch bereits zu Lesereisen nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch in die USA, nach Israel und andere Länder eingeladen. „Nur in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt habe ich noch nie gelesen“, bedauert er und dabei lebt er doch in der Mainmetropole.

Oleg Jurjew, „Die russische Fracht“, Suhrkamp-Verlag, 220 Seiten, ISBN:9783518-4207-8,

Preis: 22,80 Euro