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GEDANKEN EINES LIBERALEN RABBINERS

NICHT ALLES WAS NICHT „KOSCHER“ IST, IST „NICHT KOSCHER“

Rabbiner Dr. Walter Rothschild
Rabbiner Dr. Walter Rothschild

Klingt das wie ein Widerpruch? Aber so vieles, das mit Kaschrut heutzutage zu tun hat, ist widersprüchlich. Das Wort „Kascher“ selbst bedeutet nur „in Ordnung“ und kann in Verbindung mit Büchern, Sifre Tora, Kleidung und viel mehr benutzt werden, nicht nur mit Lebensmitteln.

 

Die Grundprinzipien der „Kaschrut“ sollten bekannt sein. In der Tora gibt es Listen von erlaubten und verbotenen Tierarten. Der Mensch, Homo Sapiens, ist ein Omnivore, er kann Kalorien und Nahrung von fast allem aufnehmen und in seinem Körper bearbeiten und verdauen – wir KÖNNEN also alles essen, die Frage ist nur, ob wir alles essen WOLLEN. Und die jüdische Antwort lautet: „Nein – wir wollen NICHT alles essen, wir wollen stattdessen bewusst essen, wir wollen keine Tiere essen, die Jäger sind – mit Pfoten statt Hufen – oder die Aas fressen. Wir wollen selber keine Tiere essen, die von selbst gestorben sind oder die tot auf der Straße liegen. Wir wollen keine Jagdvögel essen. Wir sind bereit uns auf einige Säugetiere und Geflügelarten zu beschränken, auf Fische, die echte Fische sind – nicht Kreaturen die zufälligerweise im Wasser leben. Wir haben keine Lust auf Krebse und Hummer und Austern und Oktopus und Delfine, wir haben keinen Appetit auf Frösche und Schlangen und Käutze und Mäuse und Reptilien und Schnecken – keine Ratten und Käfer – und so weiter. Oh, und Menschenfleisch auch nicht. Ja, wir wissen, man KANN diese Tierarten essen, die sind nicht alle giftig, aber wir WOLLEN sie nicht.“

 

Dann gibt es ein Konzept: Tiere sollen so weit wie möglich schmerzlos sterben und die Menschen, die Tiere schlachten, sollen ihren Beruf sehr gut kennen; man kann das so sehen, sie nehmen das Leben eines g‘ttgeschaffenen Lebewesens, nur damit andere g‘ttgeschaffene Lebewesen dieses Fleisch konsumieren dürfen. Die Tiere müssen gesund sein, sie müssen geprüft werden, die Messer auch, kein Blut darf daran kleben…

 

Dazu kommt – basierend auf nur drei Toraversen, in denen das Kochen eines Böckleins in der Milch seiner eigenen Mutter verboten wird, ganz klar ein Verbot gegen Götzendienst und ein Mischen von Leben und Tod in dem selben Topf – eine ganze Reihe von neuen Verboten, die verhindern sollen, dass sowohl ein Tröpfchen von Milch in einen Fleischtopf fallen könnte und umgekehrt. Es entwickelten sich getrennte Bestecke und Geschirr und Kochtöpfe und sogar Kühlschränke, Spülmaschinen, Küchen – aber noch nicht getrennte Mägen oder Toiletten. Vielleicht wird das auch kommen – „Bitte links oder rechts, abhängig von dem, was man bei der letzten Mahlzeit gegessen hatte?“

 

In den alten Zeiten konnte man wahrscheinlich relativ einfach kontrollieren, was man auf dem Markt einkaufte und was man kochte und was man servierte. Heutzutage sind Lebensmittel manchmal Fabrikprodukte. Sie gelangen verpackt in die Regale und man wird nur darüber informiert, was auf dem Etikett steht. Ist es vollständig, erklärt es lediglich den Unterschied zwischen den verschiedenen Arten von Farbstoffen oder den Verhärtungsmitteln. Doch kann man beweisen, dass Gelatine aus vegetarischen und nicht tierischen Quellen kommt? Darf man Vertrauen haben, wenn dort steht: „Kein Zucker, keine Nüsse, keine Tartrazine“? Oder wenn es „Bio“ heißt?

 

Und bei uns? In Leeds gab ein Rabbiner Backwaren seinen Koscherstempel. Selber verzehrte er jedoch nur Kekse mit dem Aufdruck „Manchester Bet Din Aufsicht“. Das Beit Din in England erlaubte das Mittel „E471“ in der Margarine, das Rabbinat in den Niederlanden hatte es verboten; Lebensmittelproduzenten wechselten das zuständige Beit Din wenn einer ein besseres (sprich: billigeres) Angebot machte als der andere. Und so geht es weiter. In Finchley in London stand ich einmal in einem koscheren Supermarkt – eine verzweifelte Frau fragte mich ob ein bestimmter Rabbiner aus der Schweiz „besser“ wäre als ein anderer. Sie hatte zwei Packungen Käse in der Hand und wusste nicht, welches sei das „Koscherere“ – das mit Stempel von Rabbiner A oder von Rabbiner B? Das hat auch leider wenig mit Kaschrut als solches zu tun und mehr mit Psychologie und Angst. Vor Pessach gab es öfters Fälle, wo die Ladeninhaber nur neue Stickers mit „koscher lePessach“ überall aufgeklebt haben und einen saftigen Aufpreis damit kassierten. (Manche machen dies, weil ihre Geschäfte sonst übers Jahr nur Verluste gemacht hätten). Aber was ist hier koscher – die Lebensmittel oder ihre Vermarktung?

 

So kommen wir zu den Fragen über Monopole, Establishments und Angstmacherei. Es ist eigentlich klar, viele Lebensmittel sind automatisch koscher, weil sie nur aus parve (neutralen) Zutaten bestehen. Ein Vegetarier oder Veganer, der konsequent isst, muss sich nicht viel mit Kaschrut befassen. Nur prüfen, ob Tierfett irgendwo versteckt ist. Bei milchigen Produkten gibt es nur die Fragestellung, ob Laab in Käse vegetarisch ist oder nicht. „Chalav Yisrael'“ ist ein relativ modernes Konzept – erscheint zwar im Talmud, aber bedeutet nur, man weiss, Kuhmilch ist wirklich Kuhmilch und nicht mit anderen Arten von Milch gemischt. In Staaten mit Gesetzen kann man davon ausgehen, dass normale Milch (chalav stam) genau so gut ist. Aber wenn man Kunden überzeugen kann, sie dürfen nur Milch trinken oder Käse essen wenn es 120 Prozent klar gestempelt wurde, bedeutet dies auch, dass nur fromme Juden die jüdischen Kühe gemolken haben – erst dann sind sie bereit mehr dafür zu bezahlen. Nichts kommt von nichts und einige Leute verdienen sehr gut, wenn sie ein Monopol haben. Haben nur fromme Juden die Trauben für den Traubensaft getrampelt? Haben nur fromme Juden die Dosen gefüllt? Haben nur fromme Juden die Lastwagen gefahren und nicht am Schabbes? Es gibt wirklich kein Ende für solche Gedanken. Rabbiner Louis Jacobs z‘l verursachte einen Aufruhr, als er sagte, in England seien Tee und Kaffee und Zucker sowieso immer koscher und bedürften keiner „Hechscher“, und keiner Stempel.

 

Wir reden von zwei unterschiedlichen Dingen; von Lebensmitteln die koscher sind und Lebensmitteln, die einen Stempel tragen, ein „Hechscher“. Wir sind noch nicht so weit, dass jede Kartoffel gestempelt werden muss. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Eier von Hühnern, die nie in ihrem kurzen, traurigen Batterie-Leben einen Hahn gesehen haben, befruchtet worden sind und einen Blutfleck haben – außer, man glaubt an eine jungfräuliche Empfängnis für Hühner. Aber Rabbiner sind immer mit anderen Rabbinern in Konkurrenz und es ist sehr einfach zu behaupten „Rabbiner A ist nicht koscher genug, also sein Stempel auch nicht“ – und plötzlich würden einige Marken zu „tameh“ und Tabu deklariert, obwohl die Zutaten, der Produktionsprozess usw. total einwandfrei sind. Es geht um Marketing und Kommerz und nicht mehr um das Essen selbst. Natürlich darf man sich bestimmten Autoritäten unterwerfen wenn man das so will, und nur „sephardische Kaschrut“ oder „Chabad Kaschrut“ oder nur „LeMehadrin“ essen, wenn man so neurotisch sein will. Das heißt aber nicht automatisch, dass alle anderen Produkte nicht koscher für andere Juden sind.

 

Hier will ich überhaupt nicht das Konzept von Kaschrut als solches angreifen, sondern nur das Konzept von „Nur ICH darf entscheiden, weil ICH der einzige autorisierte Rabbiner in diesem Bundesland bin“ – das ist ein zentralisiertes, hierarchisches Monopol-System, das keine Konkurrenz erlaubt. Und es ist mir egal, wie groß ein Rabbinerhut ist… Kaschrut ist so kompliziert geworden und koschere Lebensmittel sind so teuer geworden, die Mehrheit der Juden hier zeigt überhaupt kein Interesse mehr daran und Geschäfte kämpfen um ihr Überleben. Lieber soll man kundenfreundlich und nicht nur aus eigenen Macht- oder Kommerz-Interessen handeln – das wäre, meiner Meinung nach, auch wichtig.

Rabbiner Dr. W. Rothschild

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