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Seit mehr als 600 Jahren steht der „Wolfram“ im Erfurter Mariendom. Längst ist er Teil der Kirchengeschichte geworden. Doch nun hat ein Religionshistoriker herausgefunden, dass die Bronzestatue nicht christlich sondern jüdisch ist.
Wenn das stimmt, ist es eine Riesensensation! Die lebensgroße Statue eines kleinen Mannes, die um 1140 aus Bronze gegossen wurde, steht seit 1425 im Erfurter Dom. Auf ihren, im Winkel angehobenen Armen, wurden Kerzenhalter angebracht, auf denen zwei Kerzen gesteckt werden. Diese Leuchterfigur sei ein Prophet oder der christliche Johannes oder Jesus Christus selber, der Licht in die Finsternis der Welt bringt, oder ein Büßer, der den G‘ttesdienst mit den Kerzen erhellen soll, heißt es. Genaues weiß man nicht. Es gibt kein ähnliches Pendant. Kunsthistoriker forschen seit Jahrhunderten nach einer Erklärung und finden keine. Auf dem Gürtel der Figur sind zwei Namen eingeritzt, Hiliburc und Wolfram, die Namen des angeblichen Stifterehepaares, nach dem das Standbild benannt wurde.
Alles Quatsch, glaubt man dem Philologen und Religionswissenschaftler Prof. Dr. Jörg Rüpke. Der stellvertretende Direktor des Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt und Sprecher der Kolleg-Forschergruppe sollte anlässlich des Weltkongresses der Religionswissenschaftler, der im letzten Jahr in Erfurt tagte, in einer Broschüre die frühmittelalterliche Statue vorstellen. Rüpke kam zu keiner eindeutigen Erklärung über den Sinn und die ursprüngliche Verwendung der Wolframfigur. Er stieß auf zu viele Ungereimtheiten. Der Zufall half ihm. Dr. Julie Casteigt, eine Gastwissenschaftlerin aus Toulouse, erinnerte sich an ein Bild in einer mittelalterlichen jüdischen Handschrift aus Erfurt, die sich heute in Paris befindet. Dort ist Aaron abgebildet, der eine aufgerollte Tora in seinen erhobenen Armen hält. Diese haben den gleichen Winkel wie die Figur der Wolframstatue. Also schlussfolgert Prof. Dr. Rüpke, dass der Wolfram in Wirklichkeit Aaron darstellt, dessen erhobene Arme zum Halten der Tora während des G‘ttesdienstes in der Synagoge genutzt wurden. Im Mai will er seine These der Öffentlichkeit vorstellen. Ein Jahr lang hat er gemeinsam mit seinen Kollegen Prof. Dr. Dietmar Miet von der Universität Tübingen und Dr. Julie Casteigt an dieser Hypothese geforscht. Leichtfertig wolle Prof. Dr. Rüpke nicht mit einer solchen Information an die Öffentlichkeit treten, verkündete er, immerhin habe er „seinen Ruf als Wissenschaftler zu verlieren“.
Niemand überlebte 1349 das Pogrom Sämtliche Hinterlassenschaften erhielten die Kirche und die Erfurter Bürger
Dennoch sickerte seine These von dem Torahalter in der Pose der Hagbaha bereits jetzt schon an die Öffentlichkeit. Eine riesige Torarolle der Erfurter Gemeinde, die ziemlich schwer ist, befindet sich heute in der Berliner Staatsbibliothek. Wurde diese auf den bronzenen Aaron gesteckt? In Erfurt gab es schon sehr früh eine jüdische Gemeinde. Während des Pogroms vom 21. März 1349 wurde die Synagoge zerstört und alle Juden ermordet. Juden seien die Ursache für den Ausbruch der Pest, wurde ihnen vorgeworfen. Niemand überlebte.
Erst 1998 entdeckten Bauarbeiter einen vergrabenen Schatz aus dem 14. Jahrhundert, bestehend aus 3.141 Silbermünzen, 14 Silberbarren, über 700 gotische Gold- und Silberschmiedearbeiten, Becher, Kannen, Gold und Edelsteine sowie einen kunstvoll verzierten Hochzeitsring aus dem frühen 14. Jahrhundert, der heute zu den weltweit wichtigsten jüdischen Kunstgegenständen Europas gehört. Der Besitzer hatte seinen Schatz nicht zurück holen können, auch er war ermordet worden. Alle Schulden, die Erfurter Bürger bei Juden hatten, wurden annulliert. Sämtliche Hinterlassenschaften der Juden fielen der Stadt und der Kirche zu. Was mit dem bronzenen Aaron passierte, ist unbekannt. Nachgewiesen ist, dass er 1425 im Mariendom stand. War die Figur während des Pogroms aus der Synagoge gestohlen und hatte Wolfram sie der Kirche geschenkt und deshalb seinen Namen und den seiner Frau als Stifter eingravieren lassen?
Wurde Aaron aus der Synagoge gestohlen? Erfurter Juden fordern ihr Eigentum zurück
Wenn es so ist, dann soll das Diebesgut wieder zurück in jüdisches Eigentum geführt werden, verlangt Prof. Dr. Reinhard Schramm, der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, die ihren Sitz in Erfurt hat. Allerdings will er vorerst die wissenschaftliche Veröffentlichung von Prof. Dr. Jörg Rüpke im Mai dieses Jahres abwarten, die der Religionswissenschaftler bereits angekündigt hatte. „Wir haben 600 Jahre gewartet, dann kommt es auf ein paar Wochen nun auch nicht mehr an“ sagt Prof. Dr. Schramm. Für ihn ist jetzt eine wissenschaftliche Aufarbeitung wichtig, die zweifelsfrei die Provinienz der Figur belegt. Abwarten will auch Bischof Dr. Ulrich Neymeyr, bevor er eine Entscheidung trifft. Merkwürdig forsch tritt dagegen der Vorsitzende des Katholikenrates im Bistum Erfurt, Thomas Kretschmar, auf. „Der Wolfram bleibt im Dom“ fordert er in einem offenen Brief. Weiter schreibt er: „Ich kenne keine katholische Gemeinde, die an eine evangelische Kirche die Forderung nach Rückgabe von Kunstgegenständen gestellt hat, die im Zuge der Reformation der katholischen Seite verloren gegangen ist“. Die Erfurter Juden sollen ihre Forderung nach Restitution zurück nehmen und nicht „die jahrhundertealte Geschichte des Doms und der Stadt Erfurt ignorieren“. Mit anderen Worten: Wenn Diebesgut lange im Besitz des Diebes bleibt, habe dieser volles Recht, die geraubten Kultusgegenstände zu behalten? Ist das immer noch die Politik der katholischen Kirche?
Juden bekommen eine Kopie Wertvolle Originale behält die Katholische Kirche
Vor genau drei Jahren entdeckten Wissenschaftler, dass die heute nur wenige Meter vom Aaron-Wolfram-Leuchter hängende Halterung einer Ampel ebenfalls jüdisch sei. Auch sie ist aus Bronze und stammt aus dem 12. Jahrhundert. Verziert ist sie mit Szenen aus dem „Alten Testament“ oder sollte man nicht besser sagen aus der Tora? Sie war die Aufhängung einer Schabbeslampe, könnte aber auch für das ewige Licht „Ner Tamid“ genutzt worden sein. Nachdem dies bekannt wurde, ließ die katholische Kirche eine Kopie anfertigen. Diese befindet sich heute im Erfurter Jüdischen Museum. Das Original jedoch hängt weiterhin im Erfurter Dom. Angedacht ist nun ebenfalls von der großen Leuchterfigur eine Replik anzufertigen. Wieso eigentlich? Weshalb will die Katholische Kirche die Originale behalten, wenn eindeutig bewiesen ist, dass sie jüdischen Ursprungs sind und aus der Synagoge in Folge des Pogroms geraubt wurden?
Judensau und Synagoge mit dem Ziegenbock Auch heute besteht „die Gefahr des bösen Blutes“
Was die Erfurter früher von den Juden hielten, zeigen eindeutige Hinweise im Erfurter Mariendom. Gut erhalten und restauriert ist das Chorgestühl aus dem 14. Jahrhundert. Ein bewaffneter Ritter stürmt mit einer Lanze auf einen Juden zu, der ihm auf einem Schwein entgegen reitet. Der Jude wird von dem „guten“ Christen vertrieben, wohl ein Hinweis auf das entsetzliche Pogrom von 1349. Unkommentiert betrachten Besucher die „Schönheit“ der Schnitzereien am Chorgestühl, die einen Bezug zur Ermordung der Erfurter Juden hat. Keine Informationstafel erläutert die dargestellte Szene. Und am Westportal des Doms werden die „Törichten und Klugen Jungfrauen“ dargestellt. Die einen halten ihre mit Öl gefüllten Lämpchen aufrecht, während die anderen ihre Lichtquelle versiegen ließen und nicht auf die Ankunft ihres Bräutigams vorbereitet sind, den sie nicht mehr sehen können. Am Schluss der Mädchenreihen steht auf der einen Seite eine aufrechte Ecclesia während gegenüber die Synagoga, deren Augen geschlossen sind, einen zerbrochen Stab in ihren Händen hält. Fast liebevoll streichelt sie den hinter ihr hervorschauenden Ziegenbock, das Symbol der Sünde. Diese feindselige Haltung des Mittelalters scheint gegenwärtig endlich überwunden zu sein, wenn Prof. Dr. Schramm von freundschaftlichen Beziehungen zwischen der Jüdischen Gemeinde und den Katholiken spricht. Dazu passt nun gar nicht der offene Brief des Katholikenrates, der Laienvertretung der katholischen Christen, in dem im Zusammenhang mit der Rückgabe des Wolfram im scharfen Ton die Erfurter Juden gewarnt werden: „Es besteht die Gefahr des bösen Blutes“.
Erfurt will 2020 auf die UNESCO-Welterbeliste
Einmalige jüdische Stadtkultur in Deutschland erhalten
Eigentlich bestehen momentan zwischen der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen und dem Bistum Erfurt gute Beziehungen, sagt Prof. Dr. Schramm. Der dem Bischöflichen Ordinariat vorstehende, von Papst Franziskus eingesetzte Bischof Dr. Ulrich Neymeyer will vorerst das Ergebnis der wissenschaftlichen Forschungen abwarten und danach, ganz im Sinn seines Vorgesetzten, der kürzlich erneut zum „wahrhaften Dialog“ zwischen Christen und Juden, als „Freunden und Geschwistern“ aufrief, alles in Ruhe miteinander besprechen. Ebenfalls gute Beziehungen bestehen zwischen der Jüdischen Landesgemeinde, dem Zusammenschluss aller im Freistaat Thüringen lebenden Juden und dem Land Thüringen sowie der Stadtverwaltung Erfurt. In der Landeshauptstadt befindet sich die einzige in der DDR gebaute Synagoge, die Neue Synagoge, die als Gebets- und Gemeinderaum genutzt wird. Nachdem seit dem Mittelalter bis 1945 die vorigen drei Gemeinden völlig vernichtet wurden, hat die heutige neu aufgebaute vierte Erfurter Jüdische Gemeinde rund 350 Mitglieder, deren Mitglieder überwiegend aus der ehemaligen Sowjetunion zugereist kamen. In den letzten Jahren begann Erfurt sich intensiver mit seiner jüdischen Vergangenheit zu beschäftigen. Im Jahr 2009 begann die Restaurierung der „Alten Synagoge“, die 1287 erstmals erwähnt wurde, deren Grundmauern jedoch bereits aus dem 11. Jahrhundert stammen. Damit ist das Erfurter jüdische G‘tteshaus die älteste erhaltene Synagoge Europas. Heute ist dort das jüdische Museum untergebracht. 2007 wurde eine mittelalterliche Mikwe entdeckt. Sie wurde restauriert und ist heute ebenfalls ein für Jeden zugängliches Museum. Und seit April 2015 untersuchen Historiker das „Steinerne Haus“, das 1250 erbaut wurde. Es gehörte im 13. Jahrhundert nachweislich Juden und gilt als hervorragendes Zeugnis spätmittelalterlicher profaner Baukultur. Zwar können, wie die UNESCO-Beauftragte der Stadt Sarah Laubenstein, betonte, nur Bauten die Aufnahme in die UNESCO-Weltkulturerbeliste begründen, jedoch keine tragbaren Gegenstände wie Erfurts alte Hebräische Handschriften, der in einem Haus entdeckte jüdische Schatz und weitere Gegenstände, die über das Zusammenleben von Juden und Christen erzählen. Jedoch sind auch sie indirekte Argumente für die UNESCO-Bewerbung. Jetzt, so Laubenstein, verhandelt Erfurt mit den SCHUM-Städten Speyer, Worms und Mainz über einen gemeinsamen Antrag. Doch sollte die bereits erforschte reichhaltige Geschichte der Erfurter Juden und ihre erhalten gebliebenen steinernen Zeugen eigentlich als Argument für die UNESCO-Kulturgüterliste genügen. Auch Sarah Laubenstein ist gespannt auf die Veröffentlichung des Erfurter Wissenschaftlers Dr. Rüpke und sein Team, aus der hervorgehen wird, ob der Wolfram-Leuchter ebenfalls zum jüdischen Kulturgut der Stadt zugezählt werden kann.
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