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DEBATTE UM GLEICHSTELLUNG

GEHÖREN JUDEN ZUM DEUTSCHEN KULTURKREIS?

Sind aschkenasische Juden und Jüdinnen, die Jiddisch sprechen und einst aus deutschen Fürsten- und Königreichen vertrieben wurden, heutigen Spätaussiedlern gleichzusetzen? Eine Debatte darüber sollte endlich geführt und die Schieflage im Rentengesetz beendet werden. In anderen Ländern wie in Portugal und Spanien werden Sephardim als gleichberechtigte Bürger angesehen.

König Felipe VI. von Spanien wurde in diesem Jahr mit dem „Lord Jakobovits Preis des europäischen Judentums“, geehrt. Er ist die höchste Auszeichnung der Europäischen Rabbinerkonferenz, den davor bereits der frühere Präsident des Europäischen Parlaments, Jerzy Buzek sowie Frankreichs Premierminister Manuel Valls und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel erhielten. „In einer Epoche, in der in Europa der Antisemitismus wieder ansteigt“, begründet Rabbiner Pinchas Goldschmidt die Wahl, „hat Spanien außergewöhnliche Maßnahmen ergriffen, um seine Juden willkommen zu heißen“.

 

Seit 1391 wurden Juden in Spanien verfolgt und mussten sich zwischen Hinrichtung und Zwangstaufe entscheiden. 1492 war der Höhepunkt der Verfolgung. Wer kein Christ werden wollte, wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Vielen gelang die Flucht nach Istanbul und anderen Städten des Osmanischen Reiches, aber auch nach Italien, Deutschland, Griechenland oder Amerika. Über 500 Jahre lebten keine Juden mehr in Spanien. Doch Anfang Oktober 2015 beschloss die spanische Regierung ein neues Gesetz. Nachkommen der ehemals Vertriebenen sollen zurückkehren. Können sie nachweisen, dass sie Sepharden sind, erhalten sie die spanische Staatsbürgerschaft, egal ob sie in Spanien oder in einem anderen Land leben. Von einer „historischen Schuld, die nun endlich abgetragen werden soll“, sprach die Regierung und der spanische König, der dieses Gesetz begrüßte, unterstützt die jüdische Gemeinde seines Landes. „Seine Majestät, König Felipe VI. ist dabei eine Schlüsselfigur“, erklärt Isaac Querub, der Präsident der Vereinigung der jüdischen Gemeinden Spaniens, und hofft, dass er auch weiterhin sich für den „Dialog und die Zusammenarbeit zwischen Juden, Israel und der arabischen Welt“ einsetzt. Für „seine unerschütterliche Unterstützung für die jüdischen Gemeinden in Spanien“, betonte Rabbiner Pinchas Goldschmidt, erhielt der spanische König den Preis. Inzwischen leben rund 45.000 Juden in Spanien, wobei einige von ihnen das Angebot der Regierung annahmen und spanische Neubürger wurden.

 

Auch Nachbarland Portugal, das 1497 seine Juden vertrieb, beschloss kürzlich mit einmütiger Unterstützung aller Parteien ein ähnliches Gesetz und bietet den sephardischen Nachkommen seine Staatsbürgerschaft an. In beiden Ländern der Iberischen Halbinsel müssen die Antragsteller nachweisen, dass ihre Vorfahren einst in Spanien oder Portugal lebten. Als Beweis gilt unter anderem ein Sprachtest. Viele beherrschen noch Haketia oder Ladino, ein altertümliches Spanisch, das inzwischen mit einigen hebräischen und lokalen Wörtern durchmischt wurde.

 

Und Deutschland? Wie wird hier mit aschkenasischen Juden umgegangen, die in der Zeit der Kreuzzüge, um ihr Leben zu retten, gen Osten flüchteten? Oder während der Pestepidemien, deren Ausbruch ihnen angelastet wurde, vor weiteren zahlreichen Pogromen außer Landes flohen? Spanien und Portugal erkennen sephardische Juden als Staatsangehörige an, die vertrieben wurden.

 

Es gibt eine große Anzahl von Menschen, die im Laufe der Jahrhunderte aus Deutschland wegzogen. Meist hatten sie religiöse oder wirtschaftliche Gründe. Große Siedlungen entstanden zum Beispiel in Siebenbürgen, in Rumänien, in Bess­arabien, in der Bukowina, an der Donau, in Bulgarien und Rumänien, im Baltikum in Estland, Lettland, aber auch am Schwarzen Meer oder in Südrussland und an der Wolga. Auch in Afrika, wie beispielsweise in Namibia oder Südafrika gab es deutsche Siedlungen. Alle diese sogenannten „Auslandsdeutsche“ werden von der heutigen Bundesregierung ohne Weiteres als Landsleute anerkannt, was auch wirtschaftliche Vorteile mit sich bringt. Die Begründung ist einfach, sie blieben Deutsche weil sie die deutsche Kultur bewahrten und deutsch sprechen. Deutsche Kultur heißt in diesem Fall christliche Kultur. Viele hatten ihre Heimat verlassen, weil sie nicht mehr katholisch sein wollten, sondern evangelisch oder Anhänger anderer christlicher Reformbewegungen waren. Juden dagegen, die aus den rheinischen Gebieten, aus dem heutigen Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Thüringen und anderen deutschen Königs- und Fürstentümern wegzogen, wollten nichts anderes, als ihr Leben retten. Doch sie werden von der deutschen Regierung als Ausländer angesehen, wenn sie aus Polen oder Russland kommen, wo sie ebenfalls jahrhundertelang lebten.

 

Gehören aschkenasische Juden nicht auch zum deutschen Kulturkreis und sind ebenfalls Deutsche?

Da ist es schon mal möglich, dass ein Wolgadeutscher der vor kurzem nach Deutschland einreiste, sofort eine Rente erhält, weil er als „Spätaussiedler“ zum deutschen Kulturkreis zugerechnet wird und ein Jude, der aus dem gleichen Ort stammt, diese Rente nicht erhält und nun von der Grundsicherung leben muss. Sind die vertriebenen Juden nicht auch Deutsche? Allein schon ihre Namen „Hamburger, Erfurter, Mainzer, Speyer“ sind Zeugnisse der Herkunft. Oder die Berufsbezeichnungen „Kaufmann, Klopfer, Drucker, Rosen, Rosengarten, Feldman“ sowie „Graumann, Davidson (der Sohn von David), oder nach persönlichen Eigenarten wie „Groß, Klein, Lange u.s.w.“, um nur einige aufzuzählen, stammen aus dem deutschen Sprachgebrauch. Sie sprechen Jiddisch, ein mittelalterliches Deutsch, in das zwar einige Wörter ihrer Umgebung im Laufe der Zeit mit einflossen, genauso wie im Judenspanisch. Doch die Religion der jüdischen „Kontingentflüchtlinge“ ist nicht christlich, sondern jüdisch. Ist es das was zählt? Das deutsche Fremdrentengesetz sieht „Deutschstämmigkeit“ als Anerkennung oder Ausschlussgrund für die Rentenpraxis vor. Es gilt zu klären, fordert Prof. Dr. Micha Brumlik im November bei „Zeit online“ in einem Gastbeitrag, „ob Jüdinnen und Juden aus Ostmitteleuropa, aus Russland oder anderen Ländern, die nachweislich als „aschkenasische“ Juden gelten und mithin die „deutsche Volkszugehörigkeit“ aufweisen, im gleichen Sinne „Deutsche“ sind, wie es Spätaussiedlern zugesprochen wird.“ Damit hat er auf eine Diskussion aufmerksam gemacht, die ernsthaft geführt und nicht gleich im Keim erstickt werden sollte. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat inzwischen eine Kommission unter Leitung von Abraham Lehrer gegründet.

 

Wieso ist nur wer Christ ist und deutsch spricht ein deutscher Aussiedler?

So wie Spaniolisch und Ladino auch „Judenspanisch“ genannt wird, ist „Judendeutsch“ ein anderes Wort für Jiddisch. In kulturgeschichtlicher und soziolinguistischer Hinsicht ist das Verhältnis zwischen Jiddisch und den Aschkenasim durchaus vergleichbar mit demjenigen zwischen Judenspanisch und den Sephardim. Wieso ist derjenige, der ein moderneres Deutsch spricht, Mitglied des deutschen Kulturkreises und wer ein mittelalterliches deutsches Idiom spricht, nicht? Was macht einen Deutschen aus? Allein der christliche Glaube? In Portugal und Spanien gibt es für die vor Jahrhunderten vertriebenen Juden eine, wenn auch sehr späte, Gerechtigkeit. Von so einer Kehrtwende ist Deutschland noch weit entfernt.

 

Anfang Januar trat neue Stufe der Pflegereform in Kraft – Juden sind die Verlierer

In Deutschland trat Anfang 2017 das neue Pflegegesetz in Kraft. Jüdische Pflegebedürftige, die nun einen niedrigen Pflegegrad erhalten, sind benachteiligt. Sie sind die Verlierer der Pflegereform, erklärt die ZWST, der jüdische Wohlfahrtsverband. Rund 30.000 jüdische Zuwanderer aus Osteuropa, vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion, erhalten lediglich die Grundsicherung. Die Rente der Aussiedler jedoch wird so berechnet, als ob sie in Deutschland gearbeitet und damit hier einen Rentenanspruch erworben hätten. Spätaussiedler können nach dem neuen Gesetz, ihre Rentenansprüche „entsprechend den in die deutsche gesetzliche Rentenversicherung eingezahlten Beiträgen“ geltend machen. Nachbesserungen sind hier dringend nötig. Das sieht so auch der grüne Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der deutsch-israelischen Parlamentariergruppe des Deutschen Bundestages Volker Beck, der eine Korrektur fordert. „Sicherlich war es von Gesetzgeberseite nicht beabsichtigt, durch die Pflegereform jüdische Senioren strukturell zu benachteiligen“, erklärte er.

 

Abraham Lehrer fordert einen gleichberechtigten Umgang mit pflegebedürftigen Juden

1989 entschied die deutsche Bundesregierung ganz bewusst, nach der Vertreibung und Ermordung tausender Juden in der NS-Zeit wieder jüdisches Leben in Deutschland möglich zu machen und förderte den Zuzug vieler jüdischen Männer und Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion. „Die Entscheidung aus dem Jahr 1989 verantwortungsvoll auf das Jahr 2016 zu übertragen und durch eine Änderung des SGB XII einen gleichberechtigten Umgang mit pflegebedürftigen Juden zu ermöglichen“, forderte Abraham Lehrer, der Präsident der „Zentralen Wohlfahrtsstelle in Deutschland“ und Vizepräsident des Zentralrats. Die Zeit verging, die Menschen wurden älter. Viele von ihnen leben inzwischen in jüdischen Alten- und Pflegeheimen und machen rund 75 Prozent der dortigen vollstationären Altenhilfe aus. Noch müssen die örtlichen jüdischen Gemeinden die höheren Kosten übernehmen, doch auch diesen droht ein finanzieller Engpass.

 

Gleichberechtigung von Juden und Spätaussiedlern Gebot der Stunde

Außerdem verstößt dieses Vorgehen erheblich gegen das Gleichheitsprinzip. Es ist höchste Zeit, dass auch in Deutschland eine Debatte zur Frage geführt wird, wer zum deutschen Kulturkreis gehört. Aschkenasische Juden sind ebenso Teil des deutschen Kulturkreises wie die Spätaussiedler. Der Unterschied im Umgang und die erhebliche Schieflage im deutschen Rentengesetz sollten endlich bereinigt werden. Gleichheit für alle.

Alexis Canem

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