Austritte einzelner Mitglieder aus der Berliner Einheitsgemeinde und Gründungen von neuen Gemeinden als Ergebnis endloser Streitigkeiten gab es schon einmal. Heute erinnert vieles an die Situation vor 145 Jahren. Damals ging es um die Ausrichtung des G'ttesdienstes.
Im Jahr 1867 verließen orthodoxe Juden die damalige Berliner Einheitsgemeinde, die ihnen allzu reformorientiert geworden war. Sie gründeten die „Israelitische Synagogen-Gemeinde Adass Jisroel zu Berlin“, deren Rabbiner der weltweit bekannte Dr. Esriel Hildesheimer war. 1939 wurde die Gemeinde von den Nationalsozialisten aufgelöst, ihr Eigentum konfisziert, die Mitglieder deportiert und ermordet.
Enge Zusammenarbeit mit der Ronald S. Lauder-Foundation
Vor einigen Jahren hatte die Ronald S. Lauder-Foundation die Lehren des Rabbiners wieder aufgegriffen und ein „Hildesheimer-Seminar“ ins Leben gerufen, das orthodoxe Rabbiner ausbildet. Es folgten Gründungen einer Grundschule, die unter der Schirmherrschaft der Jüdischen Gemeinde zu Berlin steht, eines Kindergarten sowie einer Midrascha für Frauen. Jetzt haben junge Juden und Jüdinnen eine neue orthodoxe jüdische Gemeinde gegründet „Kahal Adass Jisroel“, die einerseits unabhängig ist, andererseits jedoch eng mit der Ronald S. Lauder-Foundation zusammenarbeitet und deren Infrastruktur nutzt. Die Kinder besuchen den Lauder Nitzan Kindergarten oder die Lauder Beth-Zion-Schule. Der G‘ttesdienst und die Schiurim finden in der „Skoblo-Synagogue and Education Center“ in der Brunnenstraße in Kooperation mit dem Hildesheimer Rabbinerseminar zu Berlin und der Jeschiwa Beis Zion in der Rykestraße statt.
Eigenständig und keine staatliche Unterstützung – Ein weltliches Leben nach Geboten der Tora
Rabbiner Daniel Fabian, der auch Mitglied des Gemeinderates ist, betont „Kahal Adass Jisroel ist etwas völlig Neues, das auf einer alten Tradition aufbaut“. Kahal Adass Jisroel bekommt keine staatliche Unterstützung, sondern finanziert sich allein über Spenden. Schon immer war Adass Jisroel eine moderne westeuropäische Gemeinde. Trotz der starken Verbundenheit mit der Tradition hatte der osteuropäische Chassidismus so zum Beispiel keinen Einfluss. „Die israelitische Religionsgemeinschaft Adass Jisroel“, betont der Vorsitzende des „Bundes Traditioneller Juden e.V.“ und Direktoriumsmitglied des Zentralrates der Juden in Deutschland Michael Grünberg, „galt als Vorbild der meisten Gemeinden in Deutschland“. Ganz im Sinne Esriel Hildesheimers, so Rabbiner Fabian, „führen wir ein Leben nach den Geboten der Tora, gleichzeitig aber auch ein weltliches Leben mit einem Beruf.“ So etwas gab es bisher nicht mehr in Deutschland seit 1939.
Jung und orthodox
Was vor allem auffällt, ist das junge Alter der Mitglieder, das im Durchschnitt bei etwa 30 Jahren liegt Jung, orthodox und sehr engagiert sind die Männer und Frauen. Momentan sind es 250 Mitglieder, etwa 65 davon sind Kinder. Alle berufen sich auf die Schriften Rabbiner Esriel Hildesheimers, der neben Raphael S. Hirsch ebenfalls ein wichtiger Begründer der modernen Neoorthodoxie ist. So freute sich Ratsmitglied Michelle Berger ganz besonders, dass gleich mehrere Nachkommen des großen Rabbiners eigens aus dem Ausland angereist kamen, um bei dieser Gründung nicht nur dabei zu sein, sondern gleichzeitig auch wertvolle Hilfestellung durch Rat und Tat gaben. „Die Bewahrung des Judentums ist nur in der Orthodoxie möglich“ betont Dr. Roman Skoblo, dessen Familie wohl die großzügigsten Unterstützer sind und Eigentümer der Synagoge, die sie zum Beten, Lernen und Lehren zur Verfügung stellen.
Mitten in Berlin entsteht ein neues orthodoxes Viertel
Kahal Adass Jisroel ist die vierte eigenständige Gemeinde in Berlin neben Chabad Lubawitsch und der Einheitsgemeinde und einer bereits vorhandenen „Adass Israel“, mit der jedoch weder die Einheitsgemeinde noch die neue „ Kahal Adass Jisroel“ in Kontakt kommen wollen. Falsche Angaben der Mitgliederzahl um so höhere Zuschüsse von Berliner Senat zu erhalten führten zu gerichtlichen Auseinandersetzungen. Die neue Gemeinde distanziert sich davon. „Wir sind diejenigen, die die eigentlichen Werte und die Tradition von Adass Jisroel vor der Shoa wiederbeleben“, betont Daniel Fabian. „Lange haben meine Frau und ich nach einer Stadt gesucht, in der wir unsere jüdische Religion ungestört leben können“, erzählt Doron Rubin. In Berlin haben sie dann diesen Platz entdeckt, wo mitten in der Hauptstadt ein orthodoxes jüdisches Viertel im Entstehen ist. Hier wohnen alle in räumlicher Nähe zueinander und zur Synagoge, so dass jeder per Fuß das G‘tteshaus erreichen kann. Fünf Mitglieder sitzen im neuen Vorstand, neben Rechtsanwalt Doron Rubin, Rabbiner Shlomo Afanasev und Rabbiner Daniel Fabian auch zwei Frauen, Michelle Berger und Nechama Rayko. Beide sind verheiratet und tragen die traditionelle Scheitel-Perücke, an der man sie sofort als orthodoxe Frauen erkennt. Und dennoch leben sie nicht zurückgezogen, sondern mitten in der modernen Gesellschaft und gehen täglich zur Arbeit. Michelle Berger zum Beispiel ist Marketingberaterin. Die Tora auch im Alltag zu leben, trotz oder gerade mit der Lebensweise des jeweiligen Landes, war der Leitspruch von Esriel Hildesheimer. „Das gilt auch heute“, erklärt Gemeinderabbiner Meir Roberg, der in London Leiter der Hasmonean High School war und in Berlin als Menahel Ruchani (geistiges Oberhaupt) sämtlicher Projekte von Lauder Yeshurun wirkt. „Kahal Adass Jisroel“, sagt Michael Grünberg „ist ein großer Kiddush Hashem“.