Zum dritten Mal organisierte die ZWSt einen internationalen Kongress über Traumata von Holocaustüberlebenden. Gefördert wurde die mehrtägige Veranstaltung auch diesmal mit Mitteln der Stiftungen "Erinnerung Verantwortung und Zukunft" und "Aktion Mensch e.V." Während sich die ersten Tagungen mit posttraumatischen Belastungsstörungen derjenigen auseinandersetzte, die in der Shoa bereits Erwachsene waren, befasste sich diesmal die Konferenz mit den ehemaligen Kindern.
Du darfst nicht weinen, du darfst nicht lachen, du darfst nicht sprechen. Du musst ganz still sein“. Drei Jahre lang trichterte die Mutter ihrer kleinen Tochter diese Verhaltensweise ein. Während sie im Ghetto arbeitete, blieb das kleine Mädchen in der Wohnung. Kam jemand die Treppe hoch huschte sie hinter einen Schrank.
Der Mutter gelang es aus dem Ghetto heraus zu kommen. Die in einem Korb mit schmutziger Wäsche versteckte Tochter nahm sie mit. Für reiche Ukrainer hatte der Bruder im Wald einen unterirdischen Bunker gebaut. „Dort blieben wir“ erzählt Aviva. Doch als die SS mit ihren Hunden immer näher kamen, flüchteten sie alle. „Dabei hatte ich einen Schuh verloren“, erinnert sie sich noch heute. Von den 12 Geschwistern der Mutter überlebten niemand den Holocaust, auch der Vater wurde ermordet und vier weitere Geschwister. Ihr Bruder, der ihr half zu überleben, wurde wenige Tage vor Kriegsende von den Deutschen erschossen. Aviva Goldschmidt hat Tränen in den Augen als sie davon berichtet. Zum ersten Mal nach fast 70 Jahren spricht sie in der Öffentlichkeit vor einem größeren Publikum darüber.
Ein anderes jüdisches Mädchen wartete jahrelang versteckt hinter Kohlensäcken im Keller. Eine Puppe war ihre einzige Spielgefährtin. Durch das geschlossene Fenster sah sie Schuhe mit Beinen vorbei- gehen. Das war ihr Blick auf die Welt.
Unterschiedlich ist das Schicksal der „Child Survivors“, der jüdischen Kinder, die den Holocaust überlebten. Fast alle wurden mehrfach „Traumen ausgesetzt“, berichtet der klinische Direktor von AMCHA Israel Dr. Martin Auerbach. Ihnen gemeinsam sind ganz unterschiedliche „komplexe posttraumatische Belastungsstörungen.“ Da gab es Kinder, die auch nach dem Krieg jahrelang nur flüsterten, statt laut zu sprechen. Im Alter fangen sie plötzlich an wieder ganz leise zu reden, weigern sich, den Raum zu verlassen und versuchen ängstlich sich zu verstecken. Andere, die als Kinder Konzentrationslager überlebten, wie der damals 13-jährige Junge, der sich wesentlich älter gemacht und behauptet hatte, er wäre Schuster, zeigen im Alter plötzlich eine unkontrollierbare Arbeitswut, so als hofften sie dadurch ihr Leben zu retten. Einige, die als Kinder sahen, wie ihre Eltern und Verwandte ermordet wurden, glauben im Rentenalter sich überall von angeblichen Feinden umgeben und werden bei den geringsten Kleinigkeiten aggressiv und aufbrausend, andere meinen ihre Ehepartner und Kinder ununterbrochen beschützen zu müssen und mischen sich ständig selbst in das Leben ihrer Enkel ein.
Vielfältig und vielschichtig sind die Spätfolgen der traumatischen Erfahrungen und Entbehrungen. „Du warst zu klein, um dich daran zu erinnern“ hörten sie Jahrzehnte lang. Und so verbargen sie ihre seelischen Leiden. Manche schwiegen aus falsch verstandener Scham. Aviva Goldschmidt verlebte ihre Kindheit und Jugend in Israel. „Ich habe mich geschämt, weil ich polnisch sprach“. Sie unterdrückte ihre Erinnerung an die Shoa und bemühte sich ganz schnell eine moderne israelische Jüdin zu werden. Sie engagierte sich in der Jugendbewegung, lernte Iwrith und ging nach dem Abitur sofort zum Militär. „Meine Mutter wollte schon von der Zeit in der Shoa erzählen, doch niemand wollte es hören. Ich auch nicht“, berichtet sie, „erst nach dem Eichmann-Prozess hat sich alles ver- ändert“. Als ihr Mann nach Deutschland reiste, kam sie mit und engagierte sich in der ZWSt für den Aufbau des Sozialdienstes.
„Wir müssen erst einmal für unser Leben sorgen“ war der gängige Gedanke fast aller überlebenden Kinder der Shoa. Ihre Tränen darüber, oft ohne Eltern und Angehörige aufzuwachsen, ohne Erfahrung von Beschützsein, Vertrauen und Liebe, verdrängten sie genauso wie ihre Umwelt, die die Traumatisierung dieser Kinder lange Zeit nicht ernst nahm. Erst in den letzten Jahren begannen Psychologen wie Patienten offener auch dieses Problem zu erforschen.
„Immer wieder“, berichtet Dr. Martin Auerbach von AMCHA, suchen „einige Überlebende sogar noch im hohen Alter von 80 bis 90 Jahren erstmals therapeutische Hilfe.“ Aber auch die Therapeuten verfügen im Vergleich zu früheren Jahren „über mehr Erfahrung, Wissen und Verständnis für die verschiedenen Folgeerscheinungen von Traumata und heutzutage steht uns eine Vielfalt unterschiedlicher Therapieformen zur Verfügung“.
Dr. Martin Auerbach kam aus Israel nach Frankfurt, um am diesjährigen internationalen Kongress „Nach dem Überleben – Psychosoziale und medizinische Auswirkungen der Shoa auf die Generation der Child Survivors“ teilzunehmen.
„Noch gibt es zahlreiche Überlebende, bei denen mit zunehmendem Alter die Geschehnisse der Shoa tags oder nachts über wieder lebendig werden“, betont Ebi Lehrer, Vorsitzender der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (ZWSt). „Diejenigen, die sich um diese Überlebenden kümmern, sollen mit den besten und neusten Methoden und Erkenntnissen vertraut gemacht werden, um diese einzusetzen“. Gemeinsam mit der „Aktion Mensch“ und der „Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft“ (EVZ) organisiert die ZWSt seit 2008 nun bereits die dritte Konferenz zum Thema „Arbeit mit Überlebenden“. Teilnehmer sind Ärzte, Psychotherapeuten, Psychologen, Pflegepersonal und Sozialbetreuer, aber auch Überlebende, die sich hier mit ihren Problemen ernst genommen fühlen und so auch sich und manche ihrer Handlungen besser verstehen lernen.
Rund 200 Interessierte nahmen an dem Kongress teil. Sie kamen aus Deutschland, aus der Schweiz, aus Frankreich, Weißrussland und Polen. 23 hochrangige Wissenschaftler leiteten Workshops oder hielten Vorträge, unter ihnen Prof. Dr. Baader, stellvertretender Vorsitzen von „Child Survivors Deutschland e.V.“, Psychoanalytiker Dr. Kurt Grünberg vom deutschen Siegmund-Freud-Institut, Psychologin Svetlana Marshak aus Minsk, sowie die Direktorin von der polnischen „Jewish Welfare Organisation“ Ewa Spaczyrka und Psychologin Miriam V. Spiegel von „TAMACH“ aus der Schweiz. Dolmetscher übersetzten nicht nur aus dem Englischen und Russischen, sondern erstmals auch aus dem Französischen. Sozialarbeiter von „Oeuvre de Secours aux Enfants“ erzählten von ihren Erfahrungen bei der Arbeit mit Child Survivors wie auch der Arzt, Rabbiner und Psychotherapeut David Pelcovitz Ph.D., der eigens aus New York angereist kam.
„Nun verstehe ich, warum Klienten manchmal so aggressiv ausfallend werden, oder einige sich weigern Anträge vollständig auszufüllen“, sagt eine Mitarbeiterin der Claims Conference. Noemi Staszewski aus Frankfurt, die gemeinsam mit Prof. Dr. Doron Kiesel aus Erfurt das Programm ausgearbeitet hatte, freut sich darüber. „Das ist super wichtig, gerade für die Überlebenden“.
Zwanzig Prozent der Teilnehmer waren nichtjüdische Mitarbeiter jüdischer Organisationen oder gehören zum Pflegepersonal verschiedener Altersheime. Einige von ihnen beginnen erst auf solchen Konferenzen die Besonderheiten der von ihr betreuten Alten richtig einzuordnen. Einer der Höhepunkte war der Auftritt des Afrikaners Jean de Dieu Mucyo, der vom Genozid in Ruanda berichtete. Zwar kann man Völkermorde nie miteinander vergleichen, trotzdem gibt es professionelle Erfahrungen in der Betreuung von traumatisierten Menschen, die in gewisser Weise dennoch übertragbar sind. „Das war der Hintergrund für die Einladung“, erklärt Noemi Staszewski. Die Menschen in Ruanda, betont sie, „wollen von unseren Erfahrungen bei der Betreuung der Überlebenden in Israel und in Europa lernen, um die Fehler, die gemacht wurden, nicht zu wiederholen“. In Israel trafen sich bereits Fachleute aus Ruanda mit Opferverbänden zu Erfahrungsaustauschen. „In den Juden sehen wir für uns ein Vorbild“, betonte Dieu Mucyo, „sie waren ein verfolgtes Volk und haben es geschafft, ein unabhängiger Staat zu werden“.
Einig waren sich alle Teilnehmer darüber, dass die Teilnahme am Kongress zwar für jeden von ihnen wichtig war. Doch auch kritische Stimmen waren zu hören. Allzu leicht wird vergessen, dass auch die zweite Generation, die Kinder von Holocaustüberlebenden, unter den entsetzlichen Erlebnissen der Eltern leiden und ihre Traumata verdrängen. Diese ebenfalls zu erforschen und fachgerecht zu behandeln ist ein Aufgabengebiet, das immer noch viel zu stiefmütterlich behandelt wird. Einzig „TAMACH“, die psychosoziale Beratungsstelle für Holocaust- Überlebende und ihre Angehörigen in der Schweiz wendet sich nun auch diesem Thema zu.